Die Erstarrung wich dem vertrauten Gefühl von Kampfbereitschaft. Diane atmete so langsam aus, dass ihr Atem stillzustehen schien, und lauschte oder spürte mit dem siebten Sinn in ihre Umgebung hinein. Sie nahm keine unmittelbare Bedrohung mehr wahr. Kein mörderischer Blick schien auf sie gerichtet und wartete darauf, ihr mit einer weiteren Kugel das Leben auszupusten. Trotzdem blickte sie sich um und suchte nach möglichen Verstecken, in denen ein Schütze lauern konnte. Sie sah nichts, was darauf hinwies, dass der Schütze hier noch lauerte.
Stattdessen bewegte der Mann am Boden die Finger und gab ein leises Stöhnen von sich. Offenbar lebte er noch, auch wenn sich rund um seinen Kopf eine Blutlache ausbreitete.
»Scheiße!« Diane lief zu ihm und drehte ihn vorsichtig um.
Die Kugel hatte Femi Al-Shaheen nicht im Kopf getroffen, sondern nur sein Ohr gestreift. Er lebte noch, auch wenn seine Augenlider flackerten und er sie nicht zu erkennen schien. Doch die zwei Löcher in seiner Brust, aus denen es heiß und rot auf sein ordentlich gebügeltes Hemd sickerte, machten klar, dass er die nächste halbe Stunde trotzdem nicht überleben wurde, wenn kein Wunder geschah.
»Holt einen Arzt«, schrie Diane in der Hoffnung, dass irgendjemand sie hörte. »Man hat Femi Al-Shaheen erschossen!«
Ein schriller Frauenschrei aus dem Haus antwortete. »La, la, laaaaaaaaaaa! Mashallah, was sollen wir tun?«
Es klang wie Fatima, Femis Frau.
Warum hatte die dumme Pute sich im Haus versteckt, statt ihrem Mann bei dem Angriff zur Seite zu stehen?
»Nimm dein verdammtes Telefon und hol einen Arzt, Tante!« Diane presste die Hände auf Femis Wunden in der Hoffnung, den Blutfluss damit zu verlangsamen. »Im Namen Gottes, Femi … was ist passiert?«
Er schlug die Augen auf. Sein Blick flackerte, aber schließlich fokussierte er sich auf sie. »Diane«, brachte er hervor. »Du solltest nicht hier sein.«
»Klar, sollte ich das. Wir haben eine Verabredung, schon vergessen? Mein Vater schickt mich für eine unangemeldete Kontrolle der Waffenlieferungen, um sicherzugehen, dass du nix abzweigst.« Sie unterdrückte das leise Schluchzen bei dem alten Witz, der auf einmal gar nicht mehr lustig schien. Femi hatte nie etwas abgezweigt. Er war absolut loyal. Die Kontrollen bei ihm waren stets nur ein Vorwand gewesen, um Urlaub in Kairo zu machen und die Gastfreundschaft von ihm und seiner Frau zu genießen.
»Und woher soll ich davon wissen, wenn es unangemeldet ist?« Femi lachte leise und verzog das kluge und sonst stets gelassene Gesicht vor Schmerz.
»Beweg dich nicht«, forderte Diane und presste die Hände auf die Schussverletzungen an seiner Brust, um das Ausströmen des Blutes zu verlangsamen. »Nicht lachen. Nicht reden. Hauptsache, du bleibst am Leben. Tante Fatima holt einen Arzt. Er ist bald hier. Bis dahin musst du bei Bewusstsein bleiben.«
»Mit mir geht es zu Ende«, brachte Femi hervor. »Es ist schön, dich noch einmal zu sehen, kleiner rothaariger Teufel. Das macht mir den Abschied leichter.« Er unterdrückte ein Husten.
Sie ignorierte das Blut, das warm und rot über ihre Finger lief und seinen metallisch-widerlichen Geruch verbreitete. »Glaub bloß nicht, dass ich dich so einfach gehen lasse. Du weißt doch, aus unserer Organisation entkommt man nur mit den Füßen voran. Und ich will dich noch eine Weile behalten.«
Immerhin war er einer ihrer zuverlässigsten Männer hier in der Region. Aus irgendeinem Grund liebte Femi sie mehr als seine eigenen Töchter - vielleicht, weil er die kleine Diane auf den Schultern getragen hatte, als ihre Mutter verstarb und ihr leiblicher Vater sie nach Kairo holte. Die beiden Männer hatten zusammen in irgendeinem Krieg gedient, über Einzelheiten sprachen sie nie, und betrachteten sich als Blutsbrüder.
Und jetzt lief sein Blut über Dianes Hände, egal wie fest sie die Fäuste auf die Einschusslöcher presste.
»Vielleicht wird es Zeit für mich, weiterzugehen.« Femi lächelte. »Mal schauen, wem ich auf der anderen Seite die Nase brechen muss, damit sie mich in den Himmel lassen.«
Diane lächelte unter Tränen. »Dann sag mir wenigstens, wer dir das angetan hat. Damit ich ihm noch auf dieser Seite die Nase brechen kann … und vielleicht noch etwas mehr.«
»Wenn ich das wüsste.« Femi schloss die Augen und schien wegzusacken.
»Aufwachen!« Diane löste eine Hand kurz von seiner Brust und schlug ihm ins Gesicht. »Du musst bei Bewusstsein bleiben, hörst du?«
Femi öffnete die Augen und lächelte. »Ich glaube, ich war ein schlechtes Vorbild. Wenn du bei allen Problemen glaubst, ein Schlag ins Gesicht sei die richtige Lösung, dann hast du zu wenig Weiblichkeit gelernt. Du hättest mehr auf Fatima hören sollen.«
»Scheiß auf die Weiblichkeit! Ich will, dass du lebst.«
Er lächelte erschöpft.
Tante Fatima kam herbeigeeilt, gekleidet nur in ein Hauskleid, das ihre Arme und Schultern freiließ. Ihre hennarot gefärbten Haare lockten sich um die Schultern und ließen sie trotz des fehlenden Make-ups und ihrer Falten wie die junge Frau wirken, die Femi vor vielen Jahren geheiratet hatte. Tränen liefen ihr über die Wange, als sie sich neben Diane kniete und nach Femis Hand griff.
Diane schluckte. Die Situation fühlte sich mit einem Mal unangenehm wie ein Abschied an. »Femi, deine Frau ist hier. Gleich kannst du mit ihr reden. Aber vorher musst du mir noch sagen, wer das war. Das ist ein Befehl.«
Er erwiderte ihren Blick und schien darin etwas zu finden, was er für seine Antwort brauchte. »Mädchenhandel«, brachte er hervor.
»Mädchenhandel? Femi, so was machen wir nicht«, wies sie die Aussage scharf zurück.
»Eine andere Organisation. Sie haben Leute bei uns eingeschleust. Ich habe es zu spät bemerkt. Und jetzt …«
»… haben sie dich erschossen, damit einer von ihnen deinen Platz einnehmen kann?«
Femi nickte erschöpft.
»Und wenn ich nicht hier gewesen wäre, hätte dein Nachfolger sich bei meinem Vater vorgestellt, alles einer feindlichen Organisation in die Schuhe geschoben und hätte deinen Platz übernommen. Und wir hätten ewig gebraucht, um zu merken, dass wir unterwandert wurden.« Diane legte den Kopf schief, obwohl ihre Aussage nicht wirklich eine Frage war. Manchmal switschte ihr Kopf in den Fast Mode, in dem sich alles mit unglaublicher Geschwindigkeit zusammensetzte und es ihr vorkam, als könne sie einer Pistolenkugel im Flug ausweichen.
Normalerweise passierte das weit fort von ihrem Zuhause …
Für Tränen war keine Zeit.
Femi nickte wieder erschöpft und hustete. Blut färbte seine immer noch vollen Lippen rot und versickerte in seinem immer noch dunklen Bart.
Diane presste die Fäuste weiterhin auf die Schusswunden und blickte zur Hofeinfahrt. Wie lange brauchte dieser bescheuerte Arzt für den kurzen Weg?
Sie blinzelte das Brennen in ihren Augen weg.
Tod eines Traums
Layla Jang war immer ein gutes Mädchen gewesen. Und deswegen schien es ihr ungerecht, dass sie jetzt mit zwölf anderen Frauen in einer aufgeheizten Wellblechhütte ohne Fenster mit einem stinkenden Eimer in der Ecke gefangen gehalten wurde und einer ungewissen Zukunft entgegensah.
Sie hätte ihre Familie niemals verlassen dürfen.
Layla hatte ihrer Mutter stets gehorcht, wenn die von ihr verlangte, härter zu arbeiten. Sie hatte sich nicht beschwert, weil ihre Brüder jeden Tag den eineinhalbstündigen Schulweg zur Schule antreten durften und sie stattdessen zu Hause blieb und lernte, wie man nähte und kochte. Sie hatte ihren großen Bruder Jamal mit Respekt behandelt und sich versteckt, wenn ihr Vater von seinen Reisen nach Hause kam und die Mutter anschrie, weil es keinen Schnaps im Haus gab.
Layla war an fast jedem Tag ihres Lebens, solange sie sich zurückerinnern konnte, aufgestanden, sobald die