»Du siehst dreckig aus, Emma!« Wie verachtend er diese Worte ausspuckte. Dann lachte er erneut lauthals kreischend auf. War er verrückt geworden? Es war das Lachen eines Irren und sein Gesichtsausdruck erinnerte sie an den alten Schauspieler Klaus Kinski, dem man ebenfalls nachgesagt hatte, verrückt zu sein. Emma wäre am liebsten schreiend davongelaufen. Sie stockte und überlegte. Weglaufen wie ein kleines, beleidigtes Mädchen? Nein, das durfte sie jetzt nicht tun. Sie wusste zwar noch nicht, was daraus werden sollte, aber sie beschloss, sich dagegenzustellen. Die Beherrschung, sich nicht selbst bloßzustellen, kostete sie viel Mühe. Sie riss sich zusammen, obwohl es sich anfühlte, als bekäme sie vor Wut einen geschwollenen Hals. Innerlich zählte sie langsam von eins bis fünf und starrte ihn dabei an. Sie atmete bewusst tief ein, um die Wut zu unterdrücken, und ballte hinter ihrem Rücken die Fäuste. »Eins, zwei drei« … Schließlich hatte sie sich gesammelt. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Wieso sollte sie jetzt aufgeben und gehen? Das könnte lächerlich wirken, und das wollte sie auf keinen Fall. Sie entschloss sich, sich seiner extrem beleidigenden Art zu widersetzen. Er meinte wohl, er könnte mit ihr machen, was er wollte?
»Was fällt dir ein? Ich bin keins von deinen Spielzeugen!«, warf sie ihm entgegen. »Was sollte das? Warum hast du das gemacht?« Sie hob abwehrend die Hand und stellte ihren linken Fuß quer, um einen gewissen Abstand zu wahren. Dann sah sie ihm direkt in die Augen, als könnte sie damit erzwingen, dass er nicht weiter auf sie zukam. Ihre Blicke stießen aufeinander wie die Hörner zweier Alpenböcke. Es wurde still und die Spannung stieg. Was würde passieren? Es war, als würden ihre inneren Stimmen miteinander kommunizieren, ohne dass ein Laut zu hören war. Es lag etwas in der Luft, das sie nicht beschreiben konnte. Instinktiv hob sie den Kopf und bemerkte, wie er seinen sichtlich senkte. Es war gar nicht so schwer. Sie stellte fest, wie einfach es war, sich in diesem mentalen Spiel zu behaupten, und es begann, ihr Spaß zu machen. Sie hielt seinem eisernen Blick stand und begann überheblich zu lächeln. Sie erkannte, was sie herausgefordert hatte, und es hatte die Wirkung, die sie sich erhofft hatte. Sie fühlte sich innerlich gefestigt und er sah aus, als gäbe er auf. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte sie losgelacht. Doch sie behielt ihre Mimik bei, was anstrengend war, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
»Entschuldige«, sagte Henry lapidar und wandte den Blick von ihr ab. »Ich habe es nicht so gemeint. Ich experimentiere gern herum und stelle mir dann die intimsten Sauereien vor.« Er warf eine Hand über die Schulter, als hätte das alles nichts zu bedeuten. Doch Emma fühlte ganz genau, dass sie die heimliche Gewinnerin in diesem Spiel war. Diese Art von Gefühl kannte sie bis dahin noch nicht. Es war anders. Es war wie ein Kinderspiel, aber für Erwachsene. Wer zuerst wegsieht, hat verloren. Als hätte sie den Spieß selbst umgedreht. Sie stand jetzt quasi über Henry. Sie war die Stärkere. Langsam dämmerte ihr, dass es sich hierbei um ein Spiel um die geistige Oberhand handeln musste. Um ein Machtspiel. Sie hatte davon gehört, jedoch noch nie erlebt, wie es sich anfühlte.
Manuel hatte damals zu ihr gesagt, es sei ein Zeichen von Dominanz, seinen Körper zu beherrschen und seinen Willen durchzusetzen. Gerade eben hatte sie es getan. Sie hatte ihre Wut hinuntergeschluckt und Henry scheinbar ergeben gemacht. Sollte sie etwa einen dominanten Kern in sich tragen, ohne dass sie jemals bewusst darüber nachgedacht hatte? Hatte sie Henry etwa gedanklich unterdrückt? Er hatte wieder heruntergeschaltet und tat, als wäre nichts gewesen. War er vielleicht eingeschüchtert und gab es nicht zu? War es wirklich so einfach? Das großartige Gefühl, das ein Gewinner gleich nach dem Sieg verspürt, stieg in ihr hoch. Es war ein tolles Erfolgserlebnis. Sich unterordnen konnte schließlich jeder. Sie hätte es beinahe auch getan. Es war die einfachste Methode, doch im letzten Augenblick hatte sie sich anders entschlossen. Sich gegen eine dominante Wesensart aufzulehnen und auch noch zu gewinnen, überstieg alles. Und wie leicht es sich anfühlte! Sie machte gleich weiter mit ihrer neu entdeckten, dominanten Linie und freute sich darüber. Sie lächelte immer noch, ließ Henry aber nicht wissen, warum. Sie wollte nicht mehr verraten, was sie gerade dachte und fühlte. Es dämmerte ihr, dass sie sicher unnahbarer wirkte, wenn sie nicht mehr offen über ihre Gedanken sprach.
»Warum hast du das gemacht, ausgerechnet mit mir?«, fragte sie und sah Henry überheblich an. Wie bei der Fotoszene. Sie hatte es sich vorhin noch von ihm beibringen lassen. Und jetzt wusste er anscheinend nicht, was in ihrem Innern vorging und wofür sie die Aufforderung zum Kinnanheben gebrauchte.
»Mach mir nichts vor, du bist doch auch so ein Luder, oder nicht?«, stellte er die Gegenfrage.
Henry wollte anscheinend, dass sie sich kleinlaut vor ihm rechtfertigte. Als wäre sie ihm eine Antwort schuldig. Ihm, dem großen Pornofotografen. Aber da irrte er sich. Es war jetzt nicht mehr möglich. Emma fühlte sich groß, als würde sie ihn innerlich überragen.
Er setzte seine Brille ab und versuchte, seinen Blick in sie hineinzutreiben. Doch es gelang ihm nicht mehr. Emma stand gewissermaßen über ihm und hatte ein Schutzschild aufgebaut, an dem seine verbalen Angriffe abprallten.
»Warum hast du meinen Mund so verschandelt, was willst du damit demonstrieren? Und nenn mich bloß nicht Luder! Ich bin bestimmt nicht eins von denen!« Demonstrativ hob sie abwehrend ihre Hand und deutete damit eine gewisse Grenze an, die Henry nicht übertreten durfte.
»Ich musste dich für deine Antwort bestrafen. Du wechselst deine Lover? Das ist unanständig.«
»Unanständig?«, äffte sie ihn nach, während sie über ihn nachdachte. Was wollte er? Sicher war er selbst überhaupt nicht anständig. Sein Verhalten hatte es ihr verdeutlicht. Hallo, sie stand vor einem Pornoproduzenten und der war sicher nicht brav, sondern ein verruchter Kerl durch und durch.
»Fass dir an die eigene Nase. Du hast doch auch keine weiße Weste.«
»Du gefällst mir, bist kein Duckmäuser und wehrst dich. Eine Menge anderer wären jetzt beleidigt davongelaufen. Damit hast du dir etwas Besonderes verdient.« Er lächelte sie an, wie am Anfang ihrer Begegnung. Sie blickte skeptisch zu ihm. Hörte sie in seiner Stimme etwa Anerkennung, so wie vorhin beim Fotografieren? Vielleicht war die ganze Szene eine Prüfung gewesen, um ihren Charakter zu analysieren. Offensichtlich hatte sie bestanden. Sie hatte sich etwas Besonderes verdient, hatte er gesagt. Was konnte es nur sein, das sie sich verdient haben sollte? Ein Extrahonorar wäre gut.
Er ging zum Spiegel und betätigte den Hebel am Wasserspender, nachdem er einen weißen Plastikbecher daruntergehalten hatte.
»Möchtest du jetzt auch etwas trinken?«
War das eine Geste der Versöhnung? Emma bemerkte erst jetzt, dass sie durstig war, und nahm den Plastikbecher aus seiner Hand. In einem Zug leerte sie den Inhalt.
»Nimm es als Kompliment, ich habe dich mit einem Kuss bestraft! Du kannst dich jetzt wieder anziehen.«
Misstrauisch sah sie ihn an. Doch auch wenn die Situation mit ihm in den Wahnsinn laufen würde, das Abenteuer Fotostudio wollte sie bis zum Schluss auskosten. Lange konnte es wohl nicht mehr dauern.
»Okay …« Sie ging hinter den Paravent und zog ihre eigenen Sachen wieder an. Als sie mit dem Ankleiden fertig war, blickte sie zum Schreibtisch, an dem Henry saß und wieder ganz der Geschäftsmann war. Er sah auf die Uhr, notierte die Zeit auf einem weißen Blatt Papier und legte es an den Platz gegenüber. Als wenn jemand einen Schalter bei ihm betätigt hätte, war keine Spur von Verrücktheit mehr auszumachen.
»Na, komm her, setz dich.« Henry machte eine einladende Handbewegung. Emma nahm wieder gesittet auf dem Sessel Platz.
»Sieh her, ich habe hier den Vertrag, den musst du noch unterschreiben. Du warst jetzt etwas mehr als zwei Stunden hier und erhältst hundertfünfzig Euro.«
Er war aufgestanden. Hinter ihm befand sich ein mächtig großer Tresor. Er war bestimmt zwei Meter hoch und eins fünfzig breit. Es war einer jener Tresore aus den 1950er-Jahren, die aussahen wie die in einem Ganovenfilm. Anthrazitgrau, mit kräusellackierter Oberfläche, einem Messingschild des Herstellers und einem großen Verschlussrad an der Vorderseite. Der Tresor machte einen gewaltigen