»Danke für dein Angebot ... Aber ich möchte wirklich erst Jerusalem sehen.«
»Sag mal, sind alle Engländerinnen so dickköpfig wie du? Gut, aber du wirst mich dann nicht daran hindern, dich zu begleiten. Ich zeige dir Jerusalem und dann pack’ ich dich zu Scheich Isaak auf die Karawane nach Bagdad.«
Schicksalsergeben hebe ich die Hände zum Himmel, obwohl ich innerlich unendlich dankbar dafür bin, dass mir auf diese Weise noch ein paar weitere Tage mit diesem wunderbaren Mann vergönnt sein werden.
JERUSALEM, NOVEMBER 1870
Da liegt sie. Die heilige Stadt Jerusalem. Asch-Scharif, wie die Araber sie nennen. Jeruschalajim, wie die Juden sie bezeichnen. Heilig für uns Christen, aber auch für die Juden und die Moslems. Blutiger Zankapfel seit Jahrhunderten. Im Sonnenlicht blinkt die goldene Kuppel des Felsendoms. Es ist ein beeindruckender Anblick. Ich bereue es nicht, dass ich mich durchgesetzt habe. Atemlos stehe ich vor den Toren der Stadt, die sich vor mir ausbreitet. Hier ist Geschichte spürbar. Da, wo ich jetzt stehe, standen im Jahr 1099 auch die Kreuzfahrer. Nach heftigen Kämpfen haben sie die Stadt gestürmt und ein blutiges Gemetzel innerhalb ihrer Mauern angerichtet. Hier an diesem Ort ist Jesus hingerichtet worden und hier an diesem Ort soll Mohammed der Prophet in den Himmel aufgefahren sein. Ich empfinde tiefe Ehrfurcht und bin zum völligen Erstaunen meiner Begleiter für lange Minuten völlig sprachlos. Dann geht es hinab und wir betreten die Stadt durch eines der mächtigen Stadttore. Eine seltsame Stimmung umfängt mich. Ich tauche ein in den Orient. Ein buntes Gemisch der Kulturen tummelt sich hier. Juden, erkennbar an ihren seltsamen Häubchen, laufen durch die Straßen. Araber mit ihren weiten Gewändern und den Turbanen. Einige westliche Händler und Reisende sind zu sehen. Ich musste David versprechen, dass wir nur wenige Tage hier verweilen, denn wir wollen den Aufbruch der großen Kamelkarawane nach Bagdad nicht verpassen. Doch ich denke, es wird reichen, um einen Eindruck von dieser faszinierenden Stadt zu gewinnen.
Ich möchte mich gar nicht groß ausruhen. Ich kann es gar nicht erwarten, zur Erkundung dieser Stadt aufzubrechen. Schweren Herzens lasse ich meine Lederkleidung im Gasthof zurück. David hat mir dringend nahegelegt, mich den hiesigen Gepflogenheiten anzupassen und ein weniger offenherziges Gewand anzulegen. Sie haben mir eine Abaya besorgt. Das ist ein langes Gewand, das von den Schultern bis hinunter zu den Fesseln reicht. Gegen jede weitere Verhüllung habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt. Ich lasse mich doch nicht voll verschleiern, wie es für arabische Frauen Vorschrift ist. Schließlich bin ich eine Christin und dies wünsche ich auch zum Ausdruck zu bringen. Ich möchte meine schönen feuerroten Haare offen tragen. Die können mir mit ihrer Hidschāb schlicht und ergreifend den Buckel hinunterrutschen. Schließlich geben sie nach und wir stürzen uns zu dritt in das Gewühl der Altstadt. Besonders faszinieren mich die Märkte. Es gibt nichts, was es hier nicht gibt. Von Töpferwaren über Haushaltsgeräte aus Messing und Zinn. Waffen und Alltagsgegenstände. Lebensmittel aller Art. Besonders beeindruckend finde ich die Gewürzstände. Hier fühlt man sich wirklich wie in »Tausend und einer Nacht«. Immer wieder darf ich probieren und bin ganz berauscht von der Vielfalt, die es hier gibt. Dann verlassen wir die Märkte und wir erreichen die Via Dolorosa. Fasziniert folge ich dem Gedränge auf dieser Straße, die Jesus entlanggeschritten sein soll auf seinem Weg nach Golgatha. Ich beginne mich im Gewirr der Altstadtgassen zu verlieren und bemerke gar nicht, dass David und James nicht mit mir Schritt halten können. Ihnen war durch einen Eselkarren der Weg versperrt, während ich weitergegangen bin. Und plötzlich stehe ich vor einem mächtigen Tor. Und dahinter sehe ich mehrere imposante Gebäude. Den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Besonders der Felsendom zieht mich an. Seine eindrucksvolle Kuppel habe ich schon lange, bevor wir die Stadt erreicht haben, erkennen können. Und ohne mich weiter umzusehen, betrete ich den heiligen Bezirk des Tempelbergs. Dadurch bemerke ich auch nicht, dass ich allein bin.
Wie magisch angezogen gehe ich auf den mächtigen Felsendom zu. Ein frischer Wind lässt meine roten Haare im Wind flattern und ich bemerke nicht, wie sich das Unheil hinter mir zusammenbraut. Ich bemerke nicht die bösen Blicke, die mir zugeworfen werden. Bemerke nicht die Unruhe, die ich durch meine Anwesenheit auslöse. Ich denke mir wirklich nichts Schlimmes bei meiner Exkursion. Ich verhalte mich so, als ob ich in London in die St. Paul’s Cathedral gehen würde. Rufe werden laut, doch ich beziehe sie nicht auf mich. Ich verstehe sie ja sowieso nicht. Und plötzlich stellt sich mir jemand in den Weg. Der Mann ist etwa so groß wie ich. Hat einen mächtigen schwarzen Bart und seine Augen blitzen mich böse an. Hab’ ich was falsch gemacht? Ich blicke mich um. Erst jetzt bemerke ich das Fehlen von David und James und erschrecke bis ins Mark. Statt der beiden haben sich etwa 10 bis 15 weitere Männer zusammengefunden. Der Bärtige fasst mich grob am Arm und redet in einem für mich unverständlichen Kauderwelsch auf mich ein. Was will der von mir, ich will mir doch bloß den Dom anschauen? Ich versuche ihn abzuschütteln, aber das macht ihn nur noch wütender. Sein Griff wird noch stärker, der Kerl tut mir echt weh. Jetzt bilden sie einen richtigen Kreis um mich und von allen Seiten schreien und brüllen sie auf mich ein. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, womit ich den Zorn dieser Leute erregt haben könnte. Plötzlich öffnet sich der Kreis und zwei Männer treten zu mir heran. Sie sind deutlich älter, ihr Bart ist schon weiß und ergraut und sie scheinen auf jeden Fall Respektspersonen zu sein. Denn das Geschrei ebbt ab. Doch so schnell die Hoffnung in mir aufkeimt, so schnell zerstiebt sie wieder. Der Schwarzbärtige redet in einem raschen und erregten Ton auf die beiden Neuankömmlinge ein, die mich missmutig beobachten. Immer wieder werfen sie mir Blicke zu, die nichts Gutes verheißen. Ich verstehe zwar kein Wort, aber aus Gesten und Mimik kann ich erkennen, dass sich hier ein Sturm über mir zusammenbraut. Und während sie offenbar über mein Schicksal beratschlagen, zerrt mich der Schwarzbart immer wieder hin und her. Er lässt mich einfach nicht los. Dann spricht der eine der Weißbärte. Er sagt nicht viel, aber offenbar ist es das, was die anderen hören wollen. Denn sie beginnen, mich vom Tempelberg herunterzuzerren. Der Schwarzbart mit mir voraus, dann die beiden Weißbärte hinterdrein und schließlich jede Menge anderer Leute, die sich unserem Zug anschließen. Das Gejohle und Geschrei wird dabei immer lauter. Was haben die mit mir vor? Etwas Gutes kann es nicht sein. Und dann sehe ich sie. Da stehen David und James. Offenbar angelockt von diesem Tumult. Mit schreckensbleichen Gesichtern, da ich die Ursache für diesen Aufruhr bin. So laut ich kann schreie ich um Hilfe ...
Unerbittlich werde ich durch die engen Gassen der Altstadt gezogen. Der Aufruhr wird immer größer und Panik steigt in mir hoch. Irgendwie bin ich da ganz tief in ein Schlamassel geraten. Und das Schlimme daran ist, dass mich scheinbar niemand versteht. Oder zumindest verstehen will. Fäuste werden gegen mich erhoben, ich kann kaum noch klar denken. Flucht ist unmöglich. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein, um mein weiteres Schicksal zu verfolgen. Wir erreichen einen Platz mit einem Gebäude, auf dem eine rote Fahne weht. Eine Fahne mit einem weißen Halbmond und einem weißen Stern. Offenbar der Palast des türkischen Gouverneurs. Ist das jetzt gut oder schlecht für mich? Meine Häscher ziehen mich weiter darauf zu und in einen weiten Torbogen hinein. Mehrere bewaffnete Soldaten halten Wache. Wieder hebt eine heftige Diskussion an, von der ich kein Wort verstehe. Schließlich lässt die Wache mich, den Schwarzbart und die beiden Weißbärtigen durch. Allen anderen verwehrt sie den Zutritt.
Ich werde in einen feuchten Kerkerraum geworfen. Ich zittere am ganzen Körper und ich muss alle Kraft aufwenden, um nicht vor Panik laut loszuschreien. Ich kann hören, wie draußen vor dem Palast der Mob tobt. Mir wird immer klarer, dass ich mit dem Betreten des Tempelbergs ein unheimliches Sakrileg begangen haben muss und ich verfluche mich selbst dafür, dass ich unbedingt auf mein wehendes Haar bestanden habe. Mit so einem Hidschāb wäre mir höchstwahrscheinlich überhaupt nichts passiert. Ich wäre unbehelligt wieder vom Tempelberg heruntergekommen. Wollen die meinen Kopf? Wie eng sehen die das hier? Wenn ich mich an die fanatischen Augen dieser Leute erinnere, dann ist mit denen nicht zu spaßen. Ich verliere das Zeitgefühl. Wie lange sitze ich hier schon? Eine Stunde? Zwei? Es muss auf jeden Fall schon Nachmittag sein. Plötzlich geht die Tür wieder auf und man zerrt mich heraus. Stößt mich einen langen Gang entlang und eine Treppe hinauf. Weitere Gänge und plötzlich stehe ich in einem großen Saal. Im Hintergrund erneut diese Fahne mit dem Halbmond darauf. Auf einem erhöhten Podium sitzt eine Gruppe von drei Männern in Uniform. Links die drei, die mich hierher geschleift haben. Mich werfen sie