Sie wollte Ryan gerade sagen, wie sehr sie ihn für seine Stärke bewunderte, die er ausstrahlte, hielt sich aber noch rechtzeitig auf, als sie realisierte, wie aufdringlich der Kommentar doch klingen würde. Sie kannte Ryan kaum und hatte kein Recht, nach einigen Stunden in seiner Gesellschaft eine so persönliche Beobachtung anzustellen.
Was dachte sie sich dabei? Und dachte sie überhaupt?
Sie entschied, dass der Wein ihr zu Kopf gestiegen war und sie ihre Worte vorsichtig wählen musste. Nur weil Ryan ein so gutaussehender, intelligenter und netter Arbeitgeber war, hatte sie kein Recht, sich in seiner Anwesenheit wie ein faszinierter Teenager zu benehmen. Sie musste damit aufhören, bevor sie sich furchtbar blamierte.
„Ich sollte dich zu Bett gehen lassen“, sagte Ryan und stellte sein leeres Glas ab. „Du musst von der Fahrt und dem Kennenlernen meiner zwei Rabauken völlig erschöpft sein. Danke, dass du dich zu mir gesellt hast. Es bedeutet mir viel, so mit dir sprechen zu können.“
„Es war ein sehr angenehmes Ende meines Tages und eine wirklich wundervolle Möglichkeit, zu entspannen“, stimmte Cassie ihm zu.
Sie fühlte sich überhaupt nicht entspannt. Die Intimität der Unterhaltung hatte sie nervös gemacht. Als sie aufstand und nach drinnen ging, konnte sie nicht aufhören, darüber nachzudenken, was er ihr erzählt hatte.
In ihrem Zimmer warf sie einen kurzen Blick auf ihre SMS und war dankbar, dass dieses Haus mit dem Internet verbunden war. An ihrem letzten Arbeitsplatz hatte es kein Handysignal gegeben und sie sich vollkommen isoliert gefühlt. Bis dahin war ihr nicht bewusst gewesen, wie furchteinflößend es sein konnte, nicht in der Lage zu sein, mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Cassie klickte sich durch die kurzen Nachrichten und Memes von Freunden in den Staaten.
Dann sah sie eine weitere Nachricht, die sie am frühen Abend empfangen hatte. Bei dem Absender handelte es sich um eine unbekannte Nummer aus England und ihre Alarmglocken läuteten. Sie öffnete die SMS und ihr wurde schlecht vor Angst.
„Sei vorsichtig“, stand auf ihrem Bildschirm.
KAPITEL FÜNF
Cassie hatte erwartet, in dem gemütlichen Zimmer mit dem Wellenrauschen im Ohr gut zu schlafen. Sie war davon überzeugt, dass dem auch so gewesen wäre, hätte sie nicht die besorgniserregende Nachricht von der unbekannten Rufnummer erhalten, während sie mit Ryan auf der Veranda gesessen hatte.
Ihr erster panischer Gedanke galt der Gerichtsverhandlung ihres ehemaligen Arbeitsgebers. Vielleicht war sie belastet worden und es lief eine Fahndung nach ihr. Sie versuchte, die aktuellen Nachrichten abzurufen, stellte aber frustriert fest, dass Ryan das WLAN bereits abgestellt hatte.
Sie wälzte sich im Bett hin und her und machte sich Sorgen. Was bedeutete die Nachricht? Wer hatte sie geschickt? Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass die Nachricht vermutlich nicht für sie bestimmt gewesen war.
*
Nach einer rastlosen Nacht fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf und wurde von dem Klingeln ihres Weckers geweckt. Erleichtert stellte sie fest, dass das WLAN wieder aktiviert worden war.
Noch bevor sie das Bett verließ, suchte sich online nach Neuigkeiten bezüglich der Gerichtsverhandlung.
Cassie erfuhr, dass die Verhandlungen vertagt worden waren und erst in zwei Wochen wieder aufgenommen werden sollten. Eine gründlichere Recherche ergab, dass die Verteidigung mehr Zeit brauchte, um zusätzliche Zeugen zu kontaktieren.
Ihr wurde schlecht vor Angst.
Erneut öffnete sie die seltsame Nachricht. „Sei vorsichtig.“ Sie fragte sich, ob sie darauf antworten sollte, um herauszufinden, was sie bedeutete. Aber der Absender schien sie blockiert zu haben, denn sie konnte der Nummer keine Nachricht schicken.
Verzweifelt versuchte sie, die Nummer zurückzurufen.
Doch der Anruf wurde sofort unterbrochen. Offensichtlich war auch diese Form der Kontaktaufnahme unterbunden worden.
Cassie seufzte frustriert. Aufgrund der fehlenden Kommunikation fühlte sich die Nachricht immer mehr wie eine Belästigung an – nicht wie eine ehrliche Warnung. Am einfachsten war es also tatsächlich, daran zu glauben, dass es sich um ein Versehen gehandelt hatte: Der Absender hatte den Fehler zu spät bemerkt und daraufhin ihre Nummer gesperrt.
Nur unwesentlich beruhigt stand sie auf, um die Kinder zu wecken.
Dylan war bereits aus dem Haus und Cassie nahm an, dass er mit dem Rad unterwegs war. Sie betrat sein Zimmer mit der Hoffnung, er würde dies nicht als Verletzung seiner Privatsphäre betrachten, schüttelte sein Bett aus und sammelte verstreute Klamotten ein.
Sein Regal war mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Büchern vollgestopft, einige schienen auch vom Radfahren zu handeln. In einem Aquarium auf dem Bücherregal schwammen zwei Goldfische und auf einem großen Tisch in der Nähe des Fensters befand sich ein Hasenstall. Ein grauer Hase aß ein Frühstück aus Salatblättern und Cassie sah ihm fröhlich zu.
Dann verließ sie sein Zimmer, um an Madisons Tür zu klopfen.
„Gib mir zehn Minuten“, hörte sie das Mädchen schläfrig rufen. Also begab sich Cassie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.
Dort sah sie, dass Ryan unter dem Salzstreuer Bargeld und eine Notiz hinterlassen hatte. „Bin bei der Arbeit. Macht euch einen schönen Tag! Ich werde abends wieder zurück sein.“
Cassie steckte eine Scheibe Brot in den hübschen Toaster mit Blumenmuster und füllte den Wasserkessel. Während sie Kaffee kochte, betrat auch Madison in einem pinken Bademantel gähnend die Küche.
„Guten Morgen“, begrüßte Cassie sie.
„Morgen. Ich bin froh, dass du hier bist. Alle anderen stehen so früh auf“, beschwerte sie sich.
„Trinkst du Kaffee? Tee? Saft?”
„Tee bitte.“
„Toast?
Madison schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich habe noch keinen Hunger.“
„Worauf hast du heute Lust? Dein Dad hat uns angewiesen, etwas zu unternehmen“, sagte Cassie und schenkte Madison wie gewünscht Tee mit einem Schuss Milch ein.
„Lass uns in die Stadt gehen“, sagte Madison. „Dort ist am Wochenende immer was los.“
„Gute Idee. Weißt du, wann Dylan zurück sein wird?“
„Normalerweise ist er etwa eine Stunde unterwegs.“ Madison legte ihre Hände um die Teetasse und blies auf die dampfende Flüssigkeit.
Cassie war beeindruckt, wie unabhängig die Kinder zu sein schienen. Offensichtlich waren sie es nicht gewohnt, überbehütet zu werden. Das Dorf war vermutlich klein und sicher genug, sodass die Kinder es als Erweiterung ihres eigenen Zuhauses betrachteten.
Kurz darauf kam auch Dylan zurück und um neun Uhr waren alle angezogen und bereit für den Ausflug. Cassie wollte den Wagen zu nehmen, aber Dylan riet ihr davon ab.
„Am Wochenende ist es schwer, einen Parkplatz zu finden. Für gewöhnlich laufen wir ins Dorf, das sind nur zweieinhalb Kilometer. Zurück nehmen wir dann den Bus. Er fährt alle zwei Stunden, wir müssen es also richtig timen.“
Der Spaziergang zum Dorf hätte nicht malerischer sein können. Der Blick auf das Meer und die hübschen Häuser begeisterte Cassie und irgendwo in der Ferne konnte sie sogar Kirchenglocken hören. Die Luft war frisch und kühl und sie genoss den Geruch des Meeres.
Madison sprang vor ihr her und zeigte auf die Häuser