Sie erreichten einen kleinen, aber geschäftigen Markt, an dessen Holzständen man Lebensmittel wie frische Orangen und Olivenöl kaufen konnte. Stoffe hingen zwischen den Ständen und boten den nötigen Schatten.
„Das ist ziemlich fantastisch“, kommentierte Simon.
„Vielleicht“, sagte Walter. „Aber die Ortsansässigen sehen nicht so freundlich aus.“
Esther sah sich um. Walter hatte recht. Sie wurden vorsichtig und aufmerksam von den Einheimischen beobachtet.
Sie schauderte und das Gefühl drohender Gefahr ließ ihre Haare zu Berge stehen.
„Wir müssen andere Kleidung finden, damit wir uns optisch angleichen können“, sagte sie, als ihr plötzlich einfiel, dass sie noch immer ihren Krankenhauskittel trug, der hinten offen war.
„Wie sollen wir das anstellen?“, forderte Simon und stemmte die Hände in die Seiten. „Wir haben kein Geld, um uns Kleidung zu kaufen.“
Esther kaute nachdenklich auf der Lippe herum. Er hatte recht, Geld hatten sie keines. Aber sie konnten sicherlich nicht weiterhin so rumlaufen. Walter trug neben seinen weißen Turnschuhen ein T-Shirt mit leuchtenden Farben, das mit einer Comicfigur der 80er Jahre bedruckt war. Simon war in eine braune Tweed-Weste und einer passenden Anzughose gekleidet. Und Esther trug ihr dünnes, puderblaues Krankenhaushemd. Sie waren alles andere als unauffällig. Aber Stehlen war falsch und das wusste sie. Es musste also einen anderen Weg geben.
„Seht mal, hier drüben“, sagte sie und zeigte auf einen Müllhaufen.
Zusammen besahen sie sich den Berg. Er schien aus zerbrochenem Geschirr, verdorbenem Essen, toten Pflanzen, Ästen und anderen Verwachsungen zu bestehen. Aber am wichtigsten war, dass sie außerdem zerlumpte Kleidung, Stoffe, Togen und Sandalen fanden. Obwohl es sich dabei offensichtlich um sehr schmutzige und abgenutzte Kleidung handelte, so war es doch wesentlich besser als das, was sie im Moment am Leib trugen.
„Bingo!“, rief Esther.
Simon sah unzufrieden aus. „Erwartest du wirklich, dass ich mich durch einen Müllhaufen wühle?“
Esther verschränkte die Arme vor der Brust. „Hast du eine bessere Idee?“
Simon wirkte ratlos. Er zog die Nase hoch und ging langsam auf den Müllberg zu. Behutsam schob er ein Teil nach dem anderen beiseite. Walter dagegen hatte keine Hemmungen und kramte in Rekordzeit eine Toga und ein Paar Ledersandalen heraus. Er zog sich um und grinste breit.
„Wie scharf sehe ich bitte aus?“, sagte er grinsend und stemmte die Hände in die Hüften. „Man muss natürlich die Flecken ignorieren.“
Auch Esther zog sich ihre Toga über. „Vielleicht ein bisschen groß“, sagte sie und betrachtete den breiten Streifen Stoff, der sie nun bedeckte. „Um ehrlich zu sein war mein Krankenhauskittel auch nichts anderes! Aber es gefällt mir, mehr oder weniger.“
Die Toga war alles in allem doch wesentlich besser als das stinkige Krankenhauskleid und sie wusste, dass sie damit weniger auffallen würde und sich besser integrieren konnte.
Nun kam auch Simon hinter dem Berg hervor. Er sah noch immer durchweg unzufrieden aus. Er hatte lediglich ein kleines Stück Stoff gefunden, das er wie einen Rock um seine Taille gewickelt hatte. Um seinen Oberkörper hatte er ein Seil geschlungen; wie ein Gürtel wandte es sich um seine rechte Schulter und dann diagonal um seinen Körper herum.
Walter lachte laut auf. Und sogar Esther, die normalerweise immer relativ ernst war, musste ein Kichern zurückhalten.
Simon schmollte. „Ich werde einen furchtbaren Sonnenbrand bekommen. Wir suchen uns besser einen Schattenplatz. Und zwar schnell.“
Aber Esther knirschte entschlossen mit den Zähnen. Sie war nicht in der Stimmung, Simons Beschwerden über Sonnenbrand zuzuhören.
„Wir haben einen Auftrag“, erinnerte sie ihn. „Einen sehr wichtigen. Wir müssen die Schule für Seher retten. Die Mission ist so wichtig, dass Professor Amethyst uns in zwei Gruppen aufgeteilt hat.“ Sie spürte, wie sich in ihrer Kehle ein Klumpen bildete, als sie an Oliver dachte und die Tatsache, dass er sich irgendwo im Universum befand - an einem anderen Ort und einer anderen Zeit. „Also hör auf, dich zu beschweren.“
Simon seufzte. „Ja, du hast vermutlich recht. Die Mission ist viel wichtiger als mein dämlicher Look und die Tatsache, dass meine extrem helle Haut furchtbar leicht verbrennt und ich dann wie ein Hummer aussehen werde. Ein nackter Hummer.“
„Danke“, antwortete Esther, die sich dafür entschieden hatte, seinen sarkastischen Ton zu ignorieren. „Also, die Mission muss beginnen. Lasst uns das Feuerzepter finden und die Schule für Seher retten.“
KAPITEL SECHS
Edmund lag weinend in einem kleinen, dunklen Zimmer. Nichts war so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte Esther wehgetan, war von Madame Obsidian ausgenutzt worden und würde nun nie wieder in die Schule für Seher zurückkehren können. Wenn Professor Amethyst je herausfand, was er getan hatte, würde er ihn mit Sicherheit verstoßen.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Edmund setzte sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ja?“
Die Tür öffnete sich. Ein rothaariges Mädchen streckte den Kopf hinein. „Madame Obsidian hat nach dir gefragt.“
Edmund wurde schwer ums Herz. Es gab keinen Ausweg. Nachdem er die Schule betrogen hatte, war er von einem gewalttätigen Beben geweckt worden. Dann war Madame Obsidian erschienen und hatte ihm einen Platz in ihrer Schule angeboten. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als anzunehmen.
Er stand auf, sein Körper schwer wie Blei, und folgte dem rothaarigen Mädchen aus dem Zimmer.
„Ich bin übrigens Madeleine“, sagte sie, als sie ihn durch die dunklen Korridore führte.
Aber Edmund war zu niedergeschlagen, um ihr zu antworten.
„Du wirst dich daran gewöhnen“, meinte sie aufmunternd. „Es ist eine tolle Schule.“
„Sicher“, murmelte er, aber er wusste, dass dem nicht so sein würde.
Madame Obsidians Schule für Seher war ein furchtbarer Ort. Während seine alte Schule hell und modern gewesen war, handelte es sich hierbei um eine schäbige, alte Burg. Es war kalt. Es roch feucht. Er war erst seit einer Nacht hier und hasste es bereits.
Madeleine hielt an einer großen Holztür und klopfte mit ihren Fingerknöcheln an.
„Herein“, rief eine Stimme im Inneren.
Edmund erkannte sie sofort. Madame Obsidian. Die Frau, die ihn ausgetrickst hatte, seine Liebe, Esther, zu betrügen.
Madeleine öffnete die Tür und winkte Edmund zu, ihr zu folgen.
Im Inneren des Raumes befand sich eine Art Büro. Es gab einen großen Tisch mit vielen Stühlen; auf jedem einzelnen saß ein Obsidian-Schüler. Am Ende thronte Madame Obsidian.
Edmund sah sich die Schüler im Raum an. Ein sehr merkwürdig aussehender Junge mit schwarzem Haar und knochigem Gesicht war so blass war, dass er einem Totenkopf ähnelte. Seine Augen dagegen waren so leuchtend blau wie er es noch nie gesehen hatte. Neben ihm saß ein großes Mädchen mit dunklem Augenmakeup. Sie hatte die Arme verschränkt und strahlte große Boshaftigkeit aus. Neben ihr saß ein rundlicher Junge mit dunklem Haar und vollkommen schwarzen Augen. Sein Blick war auf die Tischplatte gerichtet. Er sah aus, als wäre ihm erst kürzlich etwas Traumatisches passiert.
Madeleine, das rothaarige Mädchen, setzte sich auf den einzigen freien Stuhl neben dem hinterhältig dreinblickenden Jungen, während Edmund alleine stehen blieb.
„Das ist Edmund“, kündigte