KAPITEL EINS
Mit sechzehn Jahren war sich Maya Lawson fast sicher, dass sie bald sterben würde.
Sie saß auf dem Rücksitz eines Kleintransporters mit großer Kabine, während er die I-95 nach Süden, in Richtung Virginia, entlangraste. Ihre Knie waren noch weich vom Trauma und dem Gräuel dessen, was sie kaum eine Stunde zuvor erlebt hatte. Sie starrte teilnahmslos nach vorne und ihr Mund stand in dem erschütterten, leeren Blick ein wenig offen.
Der Wagen hatte ihrem Nachbarn, Mr. Thompson, gehört. Er war jetzt tot und lag wahrscheinlich noch in dem gefliesten Foyer der Lawsons in Alexandria. Der jetzige Fahrer des Transporters war sein Mörder.
Neben Maya saß ihre jüngere Schwester, Sara, die erst vierzehn war. Sie hatte ihre Beine unter sich eingezogen und ihren Körper an Mayas geschmiegt. Sara hatte, zumindest für den Moment, aufgehört zu schluchzen, doch mit jedem Atemzug entglitt ihrem offenen Mund ein leises Stöhnen.
Sara hatte keine Ahnung, was los war. Sie wusste nur, was sie gesehen hatte - den Mann in ihrem Zuhause. Den toten Mr. Thompson. Den Angreifer, der drohte, die Gliedmaßen ihrer Schwester zu brechen, damit Sara die Tür zum Panikraum im Keller öffnete. Sie hatte keine Ahnung davon, was Maya wusste, und auch Maya kannte nur einen kleinen Teil der ganzen Wahrheit.
Doch die ältere der beiden Lawson Geschwister wusste eines, oder sie war sich zumindest fast sicher: sie würde bald sterben. Sie wusste nicht, was der Fahrer des Wagens mit ihnen vorhatte - er hatte versprochen, ihnen nichts anzutun, solange sie tun würden, was er von ihnen verlangte - doch das hatte nichts zu bedeuten.
Trotz des gefühllosen Ausdrucks auf ihrem Gesicht arbeitete Mayas Gehirn wie verrückt. Nur eines war jetzt wirklich wichtig: es ging darum, Sara in Sicherheit zu bringen. Der Mann am Steuer war aufmerksam und kompetent, doch irgendwann würde er einen Fehler begehen. Wenn sie alles täten, was er verlangte, würde er zu selbstsicher werden, möglicherweise für nur eine Sekunde, und dann würde Maya handeln. Sie wusste noch nicht, was sie tun würde, doch es musste direkt, erbarmungslos und entkräftend sein. Es würde Sara die Chance zur Flucht ermöglichen, um in Sicherheit zu gelangen, zu anderen Menschen, zu einem Telefon.
Es würde Maya wahrscheinlich das Leben kosten. Dessen war sie sich jetzt schon schmerzhaft bewusst.
Ein weiteres, leises Seufzen entsprang den Lippen ihrer Schwester. Sie steht unter Schock, dachte Maya. Doch das Seufzen bekam ein Murmeln und sie bemerkte, dass Sara versuchte, zu sprechen. Sie beugte ihren Kopf in die Nähe von Saras Mund, um ihre leise Frage zu hören:
„Warum geschieht uns das?”
„Pssst.” Maya hielt Saras Kopf gegen ihre Brust und strich ihr sanft über das Haar. „Es kommt schon wieder alles in Ordnung.”
Sie bereute es, alsbald sie es gesagt hatte, denn es war eine leere Floskel, etwas, das die Menschen sagten, wenn sie sonst nichts anzubieten hatten. Nichts war in Ordnung und sie konnte auch nicht versprechen, dass wieder alles in Ordnung käme.
„Die Sünden des Vaters.” Der Mann am Steuer sprach zum ersten Mal, seit er sie gezwungen hatte, einzusteigen. Er sagte es ganz lässig, mit einer schaurig ruhigen Stimme. Dann erläuterte er etwas lauter: „Das geschieht euch, wegen der Entscheidungen und des Handelns eines bestimmten Reid Lawson, den andere als Kent Steele kennen und noch viele mehr als Agent Null.”
Kent Steele? Agent Null? Maya hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann, der Mörder, der sich selbst Rais nannte, sprach. Doch sie wusste einige Dinge. Genug, um zu wissen, dass ihr Vater ein Agent einer Regierungsgruppe war - FBI, möglicherweise CIA.
„Er hat mir alles weggenommen.” Rais starrte geradeaus auf den Highway vor ihnen, doch er sprach in einem Tonfall von unverfälschtem Hass. „Jetzt habe ich ihm alles weggenommen.”
„Er wird uns finden”, erwiderte Maya. Ihr Ton war gedämpft, nicht herausfordernd, so als würde sie nur eine Tatsache erläutern. „Er wird uns suchen und Sie töten.”
Rais nickte, als ob er mit ihr übereinstimmen würde. „Er wird euch suchen, das stimmt. Und er wird versuchen, mich umzubringen. Das hat er schon zwei Mal versucht und mich dabei meinem Tod überlassen... einmal in Dänemark und dann nochmal in der Schweiz. Wusstest du das?”
Maya antwortete nicht. Sie hatte vermutet, dass ihr Vater etwas mit dem Terrorkomplott zu tun hatte, der einen Monat zuvor, im Februar, statt gefunden hatte. Dabei versuchte eine radikale Splittergruppe ein Bombenattentat auf das Weltwirtschaftsforum in Davos durchzuführen.
„Doch ich lebe weiter”, fuhr Rais fort. „Siehst du, ich dachte, es wäre meine Bestimmung, deinen Vater zu töten, doch ich lag falsch. Es ist mein Schicksal. Kennst du den Unterschied?” Er sprach in einem etwas zynischen Ton. „Natürlich weißt du das nicht. Du bist ein Kind. Die Bestimmung besteht aus Ereignissen, die man erfüllen sollte. Es ist etwas, dass man kontrollieren, lenken kann. Das Schicksal hingegen ist mächtiger als wir selbst. Es wird von einer anderen Macht bestimmt, einer, die wir nicht vollkommen verstehen können. Ich glaube nicht, dass ich aus dem Leben scheiden kann, bevor dein Vater durch meine Hand gestorben ist.”
„Du gehörst zu Amun”, sagte Maya. Es war keine Frage.
„Ich tat es einst. Doch Amun gibt es nicht mehr. Ich alleine bestehe weiter.”