„Das ist schön zu hören. Und Ellington bleibt alleine mit dem Baby zurück? Ist das nicht etwas mutig?“
„Ich weiß es nicht“, sagte sie lächelnd. „Er scheint sich drauf zu freuen.“
McGrath nickte höflich, aber es war offensichtlich, dass seine Gedanken woanders waren. „White … haben Sie um dieses Gespräch gebeten, um meinen Rat zu erhalten? Oder wollten Sie herausfinden, wie ich reagiere, wenn Sie sich dazu entschieden, uns tatsächlich zu verlassen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht beides?“
„Nun, ich kann zweifellos sagen, dass ich es bevorzugen würde, wenn Sie bleiben. Ihre Bilanz spricht für sich selbst und auch wenn ich es nur ungern zugebe, sind Ihre Instinkte fast schon übernatürlich. In meiner Zeit beim FBI habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Ich glaube, es wäre eine absolute Verschwendung, wenn Sie Ihre Karriere so jung aufgeben würden. Andererseits habe auch ich zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Sie sind beide erwachsen, aber sie großzuziehen war eine der besten und lohnendsten Erfahrungen meines Lebens.“
„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Kinder haben“, sagte sie.
„Ich rede bei der Arbeit nicht gerne von meinem Privatleben. Doch in einem Fall wie diesem, wenn etwas so Kostbares wie ihre Karriere auf dem Spiel steht, stört es mich nicht, Ihnen ein paar Einblicke hinter die Kulissen zu geben.“
„Das weiß ich zu schätzen.“
„Also … Genießen Sie Ihr Wochenende. Sollen wir uns am Montag zusammensetzen und besprechen, wie es weitergeht?“
„Das klingt gut“, sagte sie. Doch Montag fühlte sich noch sehr weit weg an. Denn als sie aufstand, wusste sie, dass ihr nächster Stopp der Flughafen sein würde. Und dann Nebraska.
Als sie das FBI-Quartier verließ, hatte sie das Gefühl, sich selbst eine Falle zu stellen. Die meisten Menschen fühlten sich von den Geistern ihrer Vergangenheit verfolgt. Aber als sie sich darauf vorbereitete, nach Nebraska zurückzukehren, um ihre Mutter zu treffen, hatte Mackenzie das Gefühl, die Geister nicht nur aufzuwecken, sondern ihnen auch jede Menge Gelegenheit zu geben, sich von ihnen verfolgen zu lassen.
KAPITEL SECHS
Es war dreizehn Uhr fünfzehn Nebraska-Zeit, als ihr Flugzeug in Lincoln landete. Sie hatte den Flug hauptsächlich damit verbracht, den Trip zu planen. Aber erst als die Räder auf der Landebahn quietschten, wusste sie, dass sie es einfach hinter sich bringen musste. Danach konnte sie sich noch immer auf die Nacht im Luxushotel freuen, das sie bereits gebucht hatte.
Mithilfe des FBIs hatte sie (auf mehr oder weniger zwielichtige Art und Weise) herausgefunden, dass ihre Mutter noch immer dort arbeitete, wo sie es vor etwa einem Jahr getan hatte, als sie sich zum letzten Mal über den Weg liefen. Sie war ein Teil der Putzkolonne des Holiday Inns in der Kleinstadt Boone’s Mill, die wiederum nur zwei Stunden von Belton entfernt lag – der kleinen Stadt, wo sie aufgewachsen war und der sie ebenfalls einen Besuch abstatten wollte.
Zwanzig Minuten später wartete sie in der Autovermietung des Flughafens auf einen Wagen. Sie wusste, dass nur eine halbe Stunde entfernt das Gebäude lag, in dem sie ihre Karriere begonnen hatte. Sie dachte an den Mann, mit dem sie fast drei Jahre lang zusammengearbeitet hatte, bevor das FBI sich um sie bemühte. Ein Mann namens Walter Porter, der ihr, trotz seinem tiefsitzenden Sexismus und seiner Abneigung, mit einer Frau zusammenarbeiten zu müssen, viel darüber beigebracht hatte, was es bedeutete, ein effektiver Gesetzeshüter zu sein. Was er wohl mittlerweile trieb? Vermutlich war er inzwischen in Rente. Aber da sie sich in der Nähe des Reviers befand, überkam sie der Wunsch, sich auch mit ihm zu treffen.
Eins nach dem anderen, dachte sie, als sie von der griesgrämigen Frau hinter dem Tresen die Autoschlüssel erhielt.
Sobald sie auf der Straße war, zog Mackenzie die Nummer des Holiday Inns heraus, in dem ihre Mutter arbeitete, um sicherzugehen, dass sie Dienst hatte. Es stellte sich heraus, dass ihre Schicht in einer halben Stunde endete. Mackenzie würde also das Zeitfenster, in dem sie ihre Mutter am Hotel treffen konnte, um eine Stunde verpassen. Das war nicht weiter tragisch – Mackenzie hatte auch die Wohnadresse ihrer Mutter.
Sie war überrascht, als sie bemerkte, wie beruhigend das flache Land und die vertraute Atmosphäre Nebraskas auf sie wirkte. Das bevorstehende Treffen mit ihrer Mutter machte sie weder nervös noch ängstlich. Lediglich Kevin vermisste sie, als sie das offene Land und den Himmel betrachtete. Sie realisierte, dass sie noch nie so lange von ihm getrennt gewesen war und ihr wurde schwer ums Herz. Für einen Moment hatte sie Probleme, zu atmen. Doch dann dachte sie an Ellington und Kevin, zusammen in ihrer Wohnung, während der Tag sich dem Ende entgegen neigte. Ellington war ein hervorragender Vater und überraschte sie noch immer täglich damit. Sie begann zu verstehen, dass Ellington diese Zeit alleine mit seinem Sohn vermutlich genauso sehr brauchte, wie sie zurück in ihre Vergangenheit reisen musste, um die Situation mit ihrer Mutter zu klären.
Wenn alle Eltern diese Gefühle mitmachen, habe ich meiner Mutter das Leben vielleicht zu schwer gemacht, dachte sie.
Obwohl ihr seit dem Betreten des Flugzeugs in DC viel durch den Kopf gegangen war, war es dieser Gedanke, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie wusste, dass ihr Vater seine eigenen Dämonen hatte bekämpfen müssen, doch ihre Mutter hatte vor ihr oder Stephanie nie schlecht von ihm gesprochen. Schließlich wurde sie als Witwe zurückgelassen und musste alleine zwei Mädchen großziehen. Es war sehr gut möglich (und Mackenzie hatte auch schon zuvor darüber nachgedacht), dass sie so große Stücke auf ihren Vater gehalten hatte, weil er so früh verstorben war. Als junges Mädchen hatte sie keinen Grund gehabt, in ihm etwas anderes als ihren persönlichen Helden zu sehen. Aber was ist mit der Mutter, die versuchte, zwei Mädchen großzuziehen, dabei versagte und damit nicht nur die Verachtung der Gesellschaft, sondern auch die ihrer eigenen Töchter auf sich gezogen hatte?
Mackenzie brachte ein schmales Lächeln zustande, während sie sich die Tränen wegwischte. Sie fragte sich, ob ihr diese Gedanken nun kamen, wo sie selbst Mutter war. Sie hatte davon gehört, dass Frauen viele Aspekte ihres Wesens veränderten, sobald sie ein Kind in die Welt setzten. Aber ihr war nie in den Sinn gekommen, dass sie davon betroffen sein könnte. Doch sie war der lebende Beweis der Theorie, als ihr Herz sich für eine Frau öffnete, die sie für den Großteil ihres Lebens sozusagen dämonisiert hatte.
Während Nebraska an ihr vorbeizog, drang Mackenzie immer weiter in ihre Vergangenheit ein. Zum ersten Mal, seitdem sie den Bundesstaat verlassen hatte, war sie fast schon gierig darauf, diese Vergangenheit zu betreten und herauszufinden, was dort auf sie wartete.
***
Patricia White lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung knapp zehn Kilometer von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Die Wohnung befand sich in einem kleinen Gebäude, das nicht gerade verwahrlost war, aber definitiv etwas Aufmerksamkeit hätte gebrauchen können. Mackenzie hielt ihr Handy in der Hand und betrachtete Adresse und Hausnummer auf dem Bildschirm, die sie mithilfe von inoffiziellen FBI-Quellen herausgefunden hatte.
Sie ging auf die Wohnung ihrer Mutter im zweiten Stock zu. Anders als erwartet erstarrte sie nicht. Ohne zu zögern klopfte sie an der Tür und versuchte, nicht zu viel nachzudenken. Die einzige wirkliche Frage, die sich ihr stellte, war, wie sie die Konversation beginnen sollte. Sie wollte behutsam vorgehen, anstatt ins kalte Wasser zu springen und wie ein Hund herum zu paddeln.
Nach einigen Sekunden hörte sie Schritte. Die Tür öffnete sich und sie sah das überraschte Gesicht ihrer Mutter. Dann erstarrte Mackenzie. Sie war sich nicht sicher, wann sie ihre Mutter zum letzten Mal lächeln gesehen hatte und Mackenzie hatte das Gefühl, eine fremde Frau vor sich zu haben.
„Mackenzie“, sagte ihre Mutter mit dünner und aufgeregter Stimme. „Oh mein Gott, was machst du denn hier?“
„Ich hatte