Es fiel ihr nicht leicht, die Gedanken an Waffen und Verdächtige beiseite zu schieben und sich stattdessen auf Plüschtiere und Kinderpyjamas zu konzentrieren. Aber während sie so durch mehrere Läden bummelte, fiel es ihr zunehmend leichter. Tatsächlich machte es ihr Spaß, etwas Schönes für ihre Enkelin zu kaufen, obwohl die Kleine mit ihren zwei Monaten natürlich nichts mit den Geschenken würde anfangen können. Trotzdem musste sich Kate zurückhalten, um nicht gleich all die niedlichen Sachen zu kaufen, die sie fand. Allerdings, war es nicht die Aufgabe einer Großmutter, ihre Enkel zu verwöhnen?
Als sie gerade im dritten Laden ihre Einkäufe bezahlte, erhielt sie einen Anruf. Sie nahm sofort ab. Während der letzten Wochen hatte sie immer mehr die Hoffnung gehabt, von Duran oder jemand anderem vom FBI zu hören. Sie schalt sich, da sie enttäuscht wurde - denn es war nicht Duran oder jemand vom FBI, sondern es war Allen, der sie anrief. Aber nach dem ersten Stich, den es ihr versetzt hatte, dass das FBI sich noch immer nicht bei ihr gemeldet hatte, freute sie sich, dass Allen sich meldete. Sie freute sich ja im Grunde immer, von ihm zu hören.
„Allen, Hilfe!“, sagte sie spaßend. „Ich bin gerade in den Läden für Michelle unterwegs und ich kann mich kaum stoppen, all die süßen Dinge zu kaufen, dir mir in die Hände fallen. Ist das normal?“
„Keine Ahnung, da kann ich nichts zu sagen“, antwortete Allen. „Keiner meiner Söhne hatte oder hat momentan eine feste Beziehung und mich bis jetzt zum Großvater gemacht.“
„Dann lass dir gesagt sein: fange lieber jetzt schon an zu sparen.“
Allen kicherte, worüber Kate sich freute. „Also, heute ist der große Abend?“, fragte er.
„Ja. Ich habe zwar schon ein Kind großgezogen und sollte deshalb wissen, was da auf mich zukommt, aber ich habe trotzdem ein mulmiges Gefühl.“
„Ach was, das wird super. Wo wir gerade von mulmigem Gefühl sprechen… ich gehe heute mit ein paar Jungs aus… und ich habe seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr als zwei Drinks am Abend gehabt.“
„Viel Spaß.“
„Ich wollte fragen, ob wir uns nicht morgen Abend zum Essen treffen wollen. Dann können wir uns gegenseitig berichten, wie es gelaufen ist.“
„Das wäre schön. Willst du so gegen sieben hier sein?“
„Hört sich gut an. Viel Spaß heute Abend. Schläft Michelle schon durch?“
„Ich glaube nicht.“
„Autsch“, kicherte Allen und beendete damit das Gespräch.
Mit den verschiedenen Einkaufstaschen in den Händen steckte sie ihr Handy wieder ein. Sie musste lächeln. Sie befand sich in ihrem Lieblingsstadtteil, stand in der Sonne, hatte gerade schöne Dinge für ihre zwei Monate alte Enkelin besorgt. So, wie ihr Tag gerade lief, wollte sie da überhaupt, dass das FBI anrief?
Zu Fuß ging sie wieder nach Hause – etwa drei Blocks von der Stelle, an der sie Allens Anruf erhalten hatte – als sie ein Mädchen mit einem My Little Pony-T-shirt erblickte. Hand in Hand mit ihrer Mutter kam sie Kate entgegen. Sie war fünf oder sechs Jahre alt und ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie ihn nur eine Mutter hinkriegte. Sie hatte blaue Augen und ein spitzes Näschen, das sie feenartig erscheinen ließ. Und genau dieses Aussehen versetzte Kate einen Stich.
Ein Bild machte sich in ihren Gedanken breit, nämlich das von einem Mädchen, das diesem zum verwechseln ähnlich gesehen hatte. Doch vor ihrem inneren Auge hatte das Mädchen ein schmutzverschmiertes Gesicht, und es weinte. Hinter ihr sah man das Licht der Polizeiwagen.
Das Bild war so stark, dass Kate einen Moment innehalten musste. Sie riss ihren Blick von dem Mädchen los, da sie nicht merkwürdig erscheinen wollte. Sie hielt das Bild in ihren Gedanken fest und versuchte, die Erinnerung heraufzubeschwören. Die Erinnerung breitete sich langsam vor ihrem inneren Auge aus, so, als lese sie gerade den Bericht des Falls.
Fünfjährige gefunden, drei Tage nachdem sie vermisst gemeldet wurde, in einer Fischerhütte in Arkansas neben den Leichen ihrer Eltern. Die Eltern waren das fünfte und sechste Opfer eines Serienkillers, der Arkansas seit fast vier Monaten terrorisiert hatte. Ein Killer, dem Kate das Handwerk legte, aber erst, nachdem er schon neun Menschen umgebracht hatte.
Plötzlich wurde sich Kate bewusst, dass sie stocksteif auf der Straße stand, aber sie konnte sich nicht rühren. So viele Sackgassen, so viele Hinweise, die zu nichts geführt hatten. Sie hatte sich im Kreis gedreht, konnte den Killer nicht aufspüren, während er weiter Leichen produzierte. Niemand konnte ahnen, was er mit dem kleinen Mädchen vorgehabt hatte.
Aber du hast sie gerettet, sagte sie sich selbst. Am Ende hast du sie gerettet.
Langsam ging Kate weiter. Nicht zum ersten Mal war ihr etwas in den Sinn gekommen, aus ihrem vergangenen Arbeitsleben, was sie bewog, innezuhalten. Manchmal kam die Erinnerung langsam, dann wieder schnell und mit aller Macht, wie bei einem posttraumatischen Stresssyndrom.
Das Bild des Mädchens aus Arkansas befand sich irgendwo in der Mitte. Dafür war Kate dankbar. Es war dieser Fall gewesen, der sie damals, 2009, fast dazu bewogen hatte, ihre Karriere hinzuschmeißen. Er hatte ihre Seele gebrochen. Kate hatte sich erst einmal zwei Wochen frei nehmen müssen. Und für einen Augenblick, als sie jetzt die Straße herunter ging, mit den Geschenken für ihre Enkelin in der Hand, kam es Kate so vor, als sei sie in diese Zeit zurück versetzt worden.
Fast zehn Jahre waren seit diesem Fall vergangen. Kate fragte sich, was wohl aus dem Mädchen geworden war. Ob sie das Trauma hinter sich gelassen hatte.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Kate zwinkerte, erschrocken durch die Stimme. Ein Teenager stand vor ihr, sein Gesichtsausdruck besorgt, als sei er unsicher, ob er stehenbleiben oder weglaufen sollte.
„Sind Sie okay?“, fragte er noch einmla. „Sie sehen… ich weiß nicht… Sie sehen nicht gut aus. So als ob Sie gleich umfallen oder so.“
„Nein, alles okay“, sagte Kate. „Mir geht es gut. Danke.“
Der Teenager nickte und ging weiter. Auch Kate ging weiter, riss sich aus dem Loch ihrer Vergangenheit, das sich augenscheinlich noch nicht geschlossen hatte. Als sie sich ihrem Haus näherte, fragte sie sich, wie viele solcher Löcher es wohl in ihrem Leben noch geben mochte.
Und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Geister ihrer Vergangenheit sie so lange heimsuchen würden, bis sie selbst zu einem Geist geworden war.
KAPITEL ZWEI
Die nächste Stunde verbrachte Kate mit aufräumen, obwohl sie das eigentlich schon erledigt hatte, ehe sie losgegangen war. Es machte ihr Sorgen, dass sie so ein mulmiges Gefühl hatte, weil Michelle zu ihr kommen sollte. Melissa hatte während ihrer Jahre an der High-School in diesem Haus gewohnt, und wenn sie jetzt zu Besuch kam – was in Kates Augen nicht oft genug war – hatte Kate nie das Bedürfnis verspürt, das Haus pikobello zu haben. Warum also machte sie sich jetzt Sorgen darüber, wenn ein zwei Monate altes Baby hier war?
Vielleicht hat es mit großmütterlichem Nestbau zu tun, dachte sie, während sie das Waschbecken im Bad schrubbte… einem Raum, den ihre Enkelin nicht sehen und schon gar nicht benutzen würde.
Sie spülte gerade das Waschbecken aus, als es an der Tür klingelte. Die Aufregung, die sie nun verspürte, überraschte sie selbst. Als sie die Tür öffnete, strahlte sie über das ganze Gesicht. Melissa stand dort mit Michelle im Kindersitz. Das Baby schlief fest, mit einer dicken Decke über den Beinen.
„Hallo, Mama“, sagte Melissa und trat ein. Sie blickte sich um, rollte die Augen und fragte, „wie lange hast du diesmal geputzt?“
„Ich bin