Die Ressourcen des Unternehmens werden unter dieser Prämisse mithilfe von Enterprise-Resource-Planning-Software optimal eingesetzt, der Arbeitsalltag sparsam und schnell organisiert, mit einem Wort: effizient. Denn darum geht es im Management: die Effizienz zu steigern, die Kosten und den Zeitaufwand pro produzierter Einheit oder pro Dienstleistung zu senken, den Gewinn pro Einsatz zu erhöhen, jede Form der Verschwendung auszumerzen, das Optimum herauszuholen. Das Unternehmen als Formel-1-Bolide, an dem jeden Tag getüftelt wird.
Der nächste Schritt ist, nicht nur die Ressourcenverwaltung, sondern die Prozesse an sich zu optimieren. Jeder Arbeitsschritt, jeder Zentimeter Weg, jede Aufgabenverteilung, jedes i-Tüpfelchen in der Kommunikation der Mitarbeiter, soll perfekt aufeinander abgestimmt werden. Jedes organisatorische Detail, jedes unvorhergesehene Ereignis, das den reibungslosen Ablauf stören könnte, muss beseitigt werden, damit ein Rädchen reibungslos ins andere greift und die ganze Unternehmensmaschine schnurrt und summt wie ein riesiges, perfekt gewartetes und eingestelltes Uhrwerk.
Dazu braucht es: Prozesshandbücher. Ausgefeilte Norm-Regelwerke. ISO 9001 (Mindestanforderungen ans Qualitätsmanagement). ISO 14001 (internationale Umweltmanagementnorm). Allein bis Ende 2009 wurden über eine Million Zertifikate, basierend auf ISO 9001 und etwa 225 000 Zertifikate, basierend auf ISO 14001 erteilt. Diese Regeln sind für Unternehmen wie ein Zwölfpunkt-Sicherheitsgurt. Indem sie für jede nur denkbare Situation und Problemkonstellation Verfahrensweisen festlegen, geht das Management den sichersten Weg, das riesige Uhrwerk präzise zu steuern. Scheinbar.
Auf den ersten Blick funktioniert das Prinzip hervorragend! Jedenfalls in einer vorhersehbaren Ursache-Wirkungs-Welt …
Aber diese Welt hat in Wahrheit so nie existiert. Auch in den Industrieländern der sogenannten »Ersten Welt« wird uns mehr und mehr bewusst: Die Vorstellung, durch Controlling, ERP, DIN-Normen und Prozessmanagement gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Komplexität der Welt gewappnet zu sein, ist nicht mehr und nicht weniger als ein gutes Gefühl.
Das Gefühl trügt. Auch Loewe und Kodak konnten Zertifizierungen nach ISO-Norm vorweisen. Auch sie hatten Marktforschung, Prozessmanagement und Rechenzentren. Es hat sie nicht vor der Pleite gerettet. Aber keine Sorge: Auch für die Insolvenzabwicklung gibt es eine ISO-Norm.
Diese Strategie, mit all ihren Facetten, läuft auf eins hinaus: Komplexität anhand von möglichst viel Wissen, möglichst genauer Planung und möglichst enger Steuerung unter Kontrolle zu bringen. Das setzt aber eine Prämisse voraus: dass Komplexität überhaupt kontrollierbar ist.
Damit waren Unternehmen bisher sehr erfolgreich.
Jedenfalls war es bisher leicht, das zu glauben.
Doch es gilt jetzt, diese Prämisse zu überprüfen!
Zieh hoch! Zieh hoch!
Ist Optimieren wirklich ein Erfolgsgarant? Ich behaupte das Gegenteil. Denn genau dieses Verhaltensmuster bringt Unternehmen zum Scheitern. Es hat renommierte Unternehmen wie Kodak, Hertie und Schlecker ebenso getroffen wie zahlreiche unbekanntere, die schon vom Markt verschwunden sind – oder demnächst vom Markt verschwinden werden.
Auf mehr Unsicherheit mit mehr Wissen, mehr Planung, mehr Kontrolle, mehr Optimieren reagieren, ist ein Reflex, der einmal nützlich war. Heute aber ist er keine angemessene Reaktionsweise mehr: Kein Unternehmen, kein Führungsgremium kann sämtliche Fakten und Entwicklungen, die es irgendwo auf der Welt gibt, im Auge behalten. Aber jedes kleine Faktum, irgendwo auf der Welt kann prinzipiell Einfluss nehmen auf das Unternehmen. Während Sie den Wettbewerber in Indien beobachten, wächst irgendein kleines Start-up in Indonesien rasend schnell auf Weltmarktgröße. Während Sie den indonesischen Markt im Auge behalten, bahnt sich auf dem brasilianischen Markt eine Revolution in einer andere Branche an, die Sie nicht auf dem Schirm haben, die Ihre Branche aber überflüssig macht, so wie iTunes die Tonträger überflüssig macht oder Amazon die Buchhandelsketten in den Ruin treibt. Je mehr Informationen Sie sammeln, desto schwieriger wird es zu bestimmen, welche davon relevant sind und welche wie miteinander zusammenhängen. Big Data ist eine große Einladung zu Fehlschlüssen. Allwissenheit ist ab einem bestimmten Grad von Komplexität weder machbar noch sinnvoll. – Und über diese Schwelle sind wir heute schon lange hinaus.
Dasselbe lässt sich auch über Planen, Kontrolle und Optimierung sagen: In Perfektion sind sie weder machbar noch wünschenswert. Wie Sie sich auch anstrengen – Sie können unmöglich völlig vermeiden, dass es immer wieder Ereignisse gibt, die Sie unvorbereitet treffen.
Entscheidend ist dann nicht, ob und wann unerwartete Ereignisse Ihre Situation komplett verändern, sondern wie Sie damit umgehen, wenn so etwas passiert. Es geht also darum, wie rasch und kreativ Sie Lösungen dafür finden.
Hierfür ist die alte Strategie kontraproduktiv. Wer zu genau plant und zu präzise kontrolliert, engt seinen Handlungsspielraum ein. Optimieren macht unflexibel. Wenn jeder Verfahrensschritt genauestens vorgeschrieben ist und dann unvermittelt eine Situation auftaucht, die nicht vorgesehen ist, sind die Beteiligten völlig ratlos. Selbst wenn jemand eine Idee haben sollte, wie damit angemessen umzugehen wäre, lassen Vorschriften genau dies nicht zu. Denn eine erfolgreiche Strategie würde Veränderung beinhalten. Die Realität sieht meist so aus: Das Budget fürs nächste Jahr ist bis auf den letzten Cent verplant. Die Entscheidungswege sind so durchorganisiert, dass sie abzuschreiten mindestens drei Monate benötigt. Der Terminkalender von Führungskräften ist so durchgetaktet, dass zwei Vorstände auf absehbare Zeit kaum eine Viertelstunde finden, in der beide Zeit haben, um miteinander über Notfallmaßnahmen zu beraten. Jedenfalls, wenn sie an ihrem Terminplan festhalten.
Das Regelwerk, die perfekte Organisation und Planung: Das alles kann von einem Moment zum nächsten vom Sicherheitsgurt zur Fessel werden.
Gerade dann, wenn Sie glauben, alles im Griff und unter Kontrolle zu haben, weil Sie alles perfekt optimiert haben, sind Sie in höchster Gefahr. Flugkapitänen ist diese Situation bewusst und vertraut.
Je höher ein Flugzeug fliegt, desto geringer ist die Luftdichte und damit der Reibungswiderstand und desto weniger Kerosin benötigt es. Möglichst hoch oben zu fliegen ist also effizient – das Controlling der Luftfahrtgesellschaft freut sich. Doch in großen Höhen unterwegs zu sein, birgt auch ein gewaltiges Risiko, denn je geringer die Luftdichte ist, desto schneller muss ein Flugzeug fliegen, um noch genügend Auftrieb zu bekommen. Wird es zu langsam, reißt die Luftströmung an den Flügeln ab und das Flugzeug stürzt ab wie ein Stein. Diese Mindestfluggeschwindigkeit steigt mit zunehmender Höhe. Je näher sich der Pilot an die maximale Flughöhe herantastet, desto schneller muss er fliegen, damit er überhaupt oben bleibt. 300 Meter über Grund beträgt die Mindestfluggeschwindigkeit einer Verkehrsmaschine etwa 200 km/h – die Landegeschwindigkeit einer Boeing 747-400 liegt bei etwa 250 km/h. In der normalen Verkehrsflughöhe von etwa 10.000 bis 11.000 Metern liegt die Mindestgeschwindigkeit schon bei über 800 km/h.
Doch kein Flugzeug kann beliebig schnell fliegen.
Die Boeing 747-400 schafft etwa 980 km/h, ein Airbus A380 maximal etwa 1020 km/h. Oberhalb dieser Geschwindigkeiten werden die physikalischen Kräfte, die an der Maschine zerren, so groß, dass Bauteile abreißen oder sich verbiegen können. Im Extremfall wird das ganze Flugzeug in seine Einzelteile zerrissen.
Mit zunehmender Flughöhe wird also automatisch die Spanne zwischen Mindestgeschwindigkeit, die das Flugzeug in der Luft hält, und typenbedingter Höchstgeschwindigkeit enger. Je effizienter das Flugzeug fliegt, desto mehr nähert es sich dem Punkt, an dem Mindest- und Maximalgeschwindigkeit gleich sind. Das ist der Punkt der maximalen Flughöhe. Gleichzeitig der Punkt der höchsten Effizienz, das betriebswirtschaftliche Optimum, weil dort mit Maximalgeschwindigkeit und minimalem Treibstoffverbrauch geflogen wird. Die Höhenzone direkt unterhalb dieses Punktes nennen die Piloten: Coffin Corner. Die Sargecke.
Denn das ist die Ecke, aus der du, wenn du nicht aufpasst, nicht mehr lebend herauskommst. Bei einer durchschnittlich beladenen Boeing 737-800 beginnt die Coffin Corner bei etwa 12.200 Höhenmetern. Hier ist