Nehmen Sie den Arabischen Frühling: Der wurde nicht von einer politischen Gruppe ausgelöst, sondern von einem Gemüsehändler. Am 17. Dezember 2010 zündete sich in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt 200 Kilometer von Tunis entfernt, Mohamed Bouazizi aus Protest gegen behördliche Willkür an: Die Behörden hatten seine Ware beschlagnahmt. Eine individuelle Verzweiflungstat, die zunächst in Tunesien, in den nächsten Wochen und Monaten in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten, eine nicht zu stoppende Protestwelle gegen die autoritär herrschenden Regime auslöste. Das historische Ereignis war völlig ungeplant, völlig unorchestriert, völlig flächendeckend und völlig wirkungsvoll. Und niemand hatte es vorausgesehen.
Über Twitter, Facebook und Mobiltelefone verbreitete sich die Nachricht über die Selbstverbrennung von Bouazizi in Sekundenschnelle in der ganzen Welt. Über dieselben Kanäle verabredeten sich die sonst eher obrigkeitshörigen Tunesier im ganzen Land zu Protestdemos. Die Aufstände blieben keine Eintagsfliege: Nach 28 Tagen Unruhen, Protesten und Ausschreitungen war es soweit, dass der tunesische Präsident Zine el Abidine Ben Ali das Land verließ. Kurze Zeit später waren auch der ägyptische Präsident Husni Mubarak und der jemenitische Präsident Ali Abdullah Salih nicht mehr im Amt. Der libysche Diktator Muammar al-Gadaffi hielt sich noch einige Monate länger; er wurde nach einem brutalen Bürgerkrieg im Oktober 2011 umgebracht.
Geplant war das alles nicht. Doch ebensowenig kann es Zufall gewesen sein. Es sind nur genügend Faktoren zusammengekommen, um eine Entwicklung über eine bestimmte Schwelle zu heben, die die bestehende Ordnung vom Chaos trennt. Jenseits der Schwelle ist die Entwicklung unvorhersehbar, unkontrollierbar, unbeeinflussbar. Anders als in der ruhigen, geordneten Zone, wo eine Ursache eine Wirkung nach sich zieht – oder umgekehrt ein Effekt eine bestimmte Ursache hat, ist es in den stürmischen Zeiten jenseits der Schwelle ganz anders: Viele Faktoren, viele Wirkungen, und alles ist mit allem vernetzt und mit wechselseitigen Auswirkungen miteinander verbunden. Ja, Sie könnten sagen: Das ist das Chaos. Wie furchtbar! Aber es ist viel angenehmer, einfacher und praktischer zu sagen: Das ist die normale, komplexe Welt, mit ihrer zentralen Eigenschaft – Unvorhersehbarkeit.
Das heißt: Wenn Sie ein Ereignis verstehen wollen, hilft Ihnen die Suche nach DER Ursache nicht weiter. Es gibt sie nicht. Und wenn Sie eine Wirkung erzielen wollen, hilft Ihnen DIE Maßnahme nicht weiter. Denn sie erzeugt mit großer Wahrscheinlichkeit eine ganz andere Wirkung als Sie planen. Eine Intervention wirkt immer auf das ganze System, nicht nur auf einen Teil davon, und das Ganze wirkt dann wieder auf den Teil. Mit unvorhersehbaren Ergebnissen. Einfaktorielle Interventionen können Sie derzeit glatt vergessen.
Die Welt, die Wirtschaft, die Gesellschaft verlaufen nicht mehr nach dem so praktischen Ursache-Wirkungs-Prinzip. Aber die Zeit der relativen Vorhersehbarkeit war möglicherweise nur ein Spezialfall der Geschichte, nur eine Phase. Das gegenwärtige Chaos ist die Normalität von heute. Kein Grund zur Aufregung, wir können es nicht ändern. So sehe ich es …
Ich weiß, also bin ich
Wie Sie damit umgehen, kann ich natürlich nicht im Detail wissen. Die groben Strategien vermutlich aber schon, denn die beobachte ich immer wieder. Ich gehe deswegen jede Wette ein, dass Sie mit der Komplexität und Unsicherheit der modernen Welt im Prinzip genauso umgehen wie der Versandhandel Quelle, der Fotoapparat- und Filmhersteller Kodak, der Fernsehhersteller Loewe, der Autohersteller Saab. Diese Liste könnte ich beliebig verlängern. Das alles waren große Traditionsunternehmen mit professionellem Management, die ihr Business im Griff hatten, die aufgrund genauer Marktkenntnis planten und ihre Pläne konsequent umsetzten. Damit waren sie lange Zeit sehr erfolgreich – bis sie insolvent gegangen sind. Die Pleiten lösten quer durch die Wirtschaftswelt bei Führungskräften und Experten Verunsicherung und lebhafte Diskussionen aus.
Was war da los?
Haben diese, doch eigentlich bestens aufgestellten Unternehmen, irgendetwas falsch gemacht, und wenn ja was? Hatten sie die falsche Strategie, oder haben sie sie nicht konsequent genug angewendet?
Ihr Reflex wird höchstwahrscheinlich sein zu antworten: Die haben nicht gut genug geplant. Die Marktforschung war nicht detailliert genug. Die Management-Entscheidungen waren nicht gründlich genug vorbereitet, es haben Informationen gefehlt.
Ich verstehe das. Aus Ihrer Perspektive sieht das so aus.
Schauen Sie sich mit mir gemeinsam die Strategie genauer an, mit der Unternehmen versuchen, die Unwägbarkeiten des Marktes, des Kundenverhaltens und des Wettbewerbs in den Griff zu bekommen.
Diese Strategie basiert auf einem Grundsatz, den jeder Mensch seit seiner Schulzeit tausendfach gehört hat und der lautet: Wissen ist Macht. Im BWL-Studium wird dieses Axiom für den Spezialfall Wirtschaft übersetzt und noch tiefer in die Köpfe gehämmert: Je genauer du Bescheid weißt über deine Kunden, deine Wettbewerber, über das Kräftespiel des Weltmarktes, desto fundierter und treffsicherer kannst du deine Strategie planen. Dann wird dich keine Veränderung im Kundenverhalten oder Markt mehr unvorbereitet treffen. Dann bist du sicher.
»If you show us what you buy, we can tell you who you are, maybe even better than you know yourself.«
So zitierte die US-amerikanische Nachrichten-Webseite »The Daily Beast« 2010 einen früheren CEO der kanadischen Supermarktkette Canadian Tire. Mit Hilfe einer riesigen Datensammlung erstellte das Unternehmen psychologische Profile seiner Kunden. Der Konzern ermittelte, dass Kunden, die sowohl Messgeräte für Kohlenmonoxid als auch Premium-Vogelfutter und Filzgleiter für Stuhlbeine kaufen, regelmäßig die Fristen ihrer Rechnung verpassen. Wer billiges Motorenöl kaufte und auch noch in Montreal die Bar »Sharx« besuchte, bei dem war das Risiko, die Rechnung zu spät zu bezahlen, noch höher. Dieser Logik folgend, wurde allen Kunden, die diese Produktkombinationen kauften, der Kredit verweigert.
Das Kreditkarten-Unternehmen Visa legte ebenfalls detaillierte Statistiken zum Kundenverhalten an und wertete sie konsequent aus. So konsequent, dass eines Tages ausgewählten, eigentlich guten Kunden jeweils ein Brief ins Haus flatterte: Visa bot ihnen darin 300 Dollar, wenn sie kündigten.
Doch. That‘s real.
Diese Kunden hatten ihre Rechnungen immer bezahlt und trotzdem wollte das Unternehmen sie loswerden. Denn Visa hatte aufgrund einer umfangreichen Datensammlung vorausberechnet, dass sie zu Risikokunden werden könnten. So funktioniert der Versuch, das Chaos zu kontrollieren. So funktioniert Big Data!
Finden Sie das absurd? Aber wieso? Hier wurde das Prinzip »mehr Wissen = mehr Planungssicherheit« doch nur konsequent angewendet. Das und nichts anderes ist die Konsequenz aus dem Denken, das in unserer Gesellschaft (fast) jeder akzeptiert und praktiziert, von der Kita bis zum Altenheim.
Mehr Informationen über Kunden, mehr Informationen über Wettbewerber und vor allem mehr Informationen über das eigene Unternehmen sollen bei der noch detaillierteren Planung helfen. Um die internen Informationen zu sammeln und zu bündeln, gibt es die Controlling-Abteilungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten immens ausgebaut wurden. »Immer mehr Unternehmen setzen darauf, jemanden einzustellen, der diese Aufgabe übernimmt«, schrieb das deutsche Börsenportal wallstreet:online im August 2013. Controller sammeln und analysieren alle Zahlen, die sie im und ums Unternehmen auftreiben können. Und sie werden darin immer besser.
Diese Informationen kumulieren, analysieren und präsentieren sie dann der Unternehmensleitung. Und diese entscheidet auf dieser Grundlage, beschließt den Geschäftsplan fürs nächste Jahr und Maßnahmen, mit denen die geplanten Ziele erreicht werden sollen. Ursache-Wirkungs-Ketten werden angestoßen, alles auf der Basis möglichst guter Zahlen. Exzellent.
Dann überprüft das Controlling laufend, ob der Ist-Zustand noch mit dem Soll-Zustand übereinstimmt. So kann das Management bei der geringsten Planabweichung sofort