Als das Kino den Kinderschuhen entwachsen war, fand es in den 10er Jahren zu der Form, die es für zwei Jahrzehnte behalten sollte. Stummfilme mit Zwischentiteln und live gespielter Musik wurden Abend für Abend dem zahlenden Publikum präsentiert. Die Spielfilme hatten eine Dauer von etwa 90 bis 120 Minuten. Es gab in der ersten Zeit auch viel längere Filme, so der dreistündige Meilenstein der Filmgeschichte von D. W. Griffith The Birth of a Nation oder später Abel Gances Napoleon (1927) mit über fünf Stunden.
Die Form des filmischen Erzählens, die sich herausbildete, hatte vor allem damit zu tun, dass die Zuschauer am Abend wenig Freizeit hatten. Ein Großteil wurde dabei schon für die An- und Abfahrt zum Kino verbraucht, sodass für den eigentlichen Film nicht mehr viel Zeit übrig blieb.
Und in den ersten Jahren hatte die Filmemacher gelernt, mit welchen Mitteln welche Reaktion erzeugt werden konnten. Wie ein Kind sich die Wörter, den Satzaufbau und die Bedeutung aneignet, hatten die Autoren, Regisseure und Kameramänner die Bilder, den Schnitt und deren Wirkung erprobt. Auf diesem Weg hatte sich die Sprache des Films entwickelt.
Zu den Merkmalen des Kinos gehörte lange Zeit, dass dem Hauptfilm eine Wochenschau vorgeschaltet war, die Neuigkeiten aus aller Welt zusammenfasste. Heute würden wir sagen, dass die die Zuschauer Nachrichten sahen. Zwar verbreiteten Zeitungen die globalen Ereignisse schon seit Jahrhunderten in Schriftform und interpretierten sie in ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung für ihre Leser, aber das Publikum im Kino war hautnah dabei und gewann durch das Gesehene den Eindruck, die Wahrheit gezeigt zu bekommen. Es vermittelte ihnen das Gefühl, sich selbst ein Bild machen zu können, da sie der Realität direkt beiwohnten. Durch das visuelle Medium hatte auch jene Bevölkerungsschicht, die mit dem Lesen Mühe hatte, Gelegenheit sich zu informieren. Dabei waren die Wochenschauen genauso manipulativ wie die gedruckten Medien und wurden nicht umsonst von den Nationalsozialisten gnadenlos für ihre Zwecke genutzt. Trotzdem hat das Kino den Menschen die Welt näher gebracht. Die Zuschauer haben der Erfindung der Brüder Skladonowsky und Lumière zu verdanken, dass sie den Alltag eines Eskimos in der Arktis miterleben (Nanuk, der Eskimo aus dem Jahr 1922) und das Schicksal eines jungen Perlentauchers auf der Südsee-Insel Bora Bora verfolgen konnten (Tabu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1931).
Das Kino prägte damit auf zweierlei Weise das Bild, das sich die Menschen von der Welt machten – durch die Nachrichten ebenso wie durch die fiktiven Geschichten, die es erzählte.
Während in Amerika die großen Filmstudios entstanden, wurde schon im Laufe des Ersten Weltkriegs in Deutschland die Universum-Film AG (UFA) gegründet, um der Konkurrenz aus Hollywood etwas entgegenzusetzen. Regisseure wie Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau drehten für die UFA Großprojekte wie Metropolis, Die Nibelungen oder Faust. Sie alle waren international verwertbar, da die Filme stumm aufgenommen wurden und damit ohne gesprochene Sprache auskommen mussten. Der letzte Mann von Murnau wurde so auch in Nordamerika zum großen Erfolg, und der 1930 entstandene Der blaue Engel (einer der ersten Tonfilme) begründete die internationale Karriere von Marlene Dietrich. Kino war ein globales Phänomen. Erst später etablierte sich Hollywood als das wichtigste Zentrum der Filmwelt, auch dadurch unterstützt, dass nach 1933 immer mehr Talente aus Deutschland emigrierten und in die »Traumfabrik« auswanderten.
Und das Kino brachte die ersten Stars hervor. Weltweit betrachteten die Zuschauer die fiktiven Schicksale der Schauspieler und bekamen das Gefühl, ihnen ganz nah zu sein. Auch wenn diese jenseits des Atlantiks lebten und arbeiteten, die Menschen hatten den Eindruck, sie persönlich zu kennen. Die Wirkung war enorm. Als Charlie Chaplin 1931 Berlin besuchte, wurde er am Bahnhof von einer begeisterten Menschenmenge empfangen. Das Phänomen der Berühmtheiten, die in der Welt bekannt sind, wird durch das Kino etabliert. Es gehört zu den Wesenszügen des Films, dass er Stars produziert.
Mit der Erfindung des Tonfilms und der veränderten politischen Situation in Europa, wurde das vormals globale Kinoerlebnis mit einem Mal zu einer nationalen Angelegenheit. Insbesondere in Deutschland wurde das Kino zu einem zentralen Element der Propagandamaschine und wurde nicht umsonst direkt dem Ministerium von Joseph Goebbels unterstellt. Dieser verstaatlichte den Industriezweig und zwang die Filmemacher, in die Reichsfilmkammer einzutreten, wo ihre Werke einer rigiden Zensur unterlagen. Den Nazis lag dabei weniger an eindeutigen politischen Botschaften, sondern sie forderten ablenkende Unterhaltung, die eher subtil das Menschenbild der Nationalsozialisten vermittelte: Frauen als Mütter und dem Manne untertan, Männer als soldatische Helden. Und alle folgten mit Begeisterung dem Führer.
Es waren Goebbels, Hitler und ihre Vasallen, die der Welt auf eindrückliche Art zeigten, wie das Medium wirksam zur Manipulation eingesetzt werden kann. Es brauchte dabei nicht das Pathos der sowjetischen Propagandawerke, sondern der Film erreichte als Unterhaltungsware einen viel größeren Einfluss auf die Massen.
Der Eskapismus ging ohne die staatliche Lenkung der Nazis auch nach dem Krieg nahtlos weiter. Nur wenige Filme in Deutschland beschäftigten sich mit der Realität oder gar mit der Vergangenheit und deren Folgen. Es waren eher Die Mädels vom Immenhof oder die junge österreichische Kaiserin Sissi, mit denen sich das deutsche Publikum beschäftigen durfte.
Schon in den Anfangsjahren des Kinos war deutlich geworden, dass es einen Unterschied gibt in der Rezeption eines Romans, eines Theaterstücks oder eines Lichtspiels, wie es damals genannt wurde. Bewegte Bilder erzeugen durch ihre direkte visuelle Präsenz mühelos Empathie. Die Zuschauer können im Kino Mitgefühl mit den Figuren auf der Leinwand entwickeln. Dies liegt einerseits an der Konzentration auf das Geschehen und andererseits der Nähe zu den Handelnden, die die Kamera im Gegensatz zum Theater aufbauen kann. Das Publikum beobachtet die Emotionen hautnah und erlebt sie mit. Schnitt und Kameraperspektive können diesen Effekt noch zusätzlich unterstützen. Und die Entstehung von Empathie ist immer auch damit verbunden, dass die Zuschauer eine Narration konstruieren. Darum fällt es der Fotografie schwer, sie zu erzeugen. Film ist also die perfekte »Empathiemaschine«. Er erzählt uns Schicksale von Menschen und läßt uns Emotionen erleben, die wir so auf keine andere Art und Weise erlangen. Das Erzählen von Geschichten war für die Menschheit schon immer ein wichtiger Bestandteil, um Erfahrungen weiterzugeben und sich zu entwickeln. Mit dem Film bekam dieser elementare Bestandteil unser Entwicklungsgeschichte eine neue Qualität.
KAPITEL
DIE FLIMMERKISTE
Heute Abend hatte Christoph keine Lust auf das übliche Fernsehprogramm. Ein Blick in die Fernsehzeitschrift hatte ihm verraten, dass nur eine Show und eine Serie im Angebot war. Er hatte eher das Bedürfnis auf einen anspruchsvollen Film. Vielleicht sogar Hannah und ihre Schwestern, von dem die Freunde vor einem halben Jahr geschwärmt hatten, als er im Kino lief. Woody Allen hat wieder mal eine Glanzleistung vollbracht, hatte seine beste Freundin Bettina erzählt.
Er zog sich einen Mantel über und stieg in sein Auto. Die Fahrt durch den abendlichen Verkehr dauerte nicht lange, da hatte er die Videothek erreicht. Enttäuscht stellte er fest, dass Hannah und ihre Schwestern bereits ausgeliehen war. Er machte sich auf die Suche nach einem anderen Film. Einer, der seiner Stimmung entsprach. Erwartungsvoll bummelte er an den Regalen vorbei. Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte er sein Video gefunden: Zurück in die Zukunft. Die Geschichte eines Jungen, der eine Zeitreise in seine eigene Vergangenheit unternimmt. Darüber hatte er in der Zeitung eine positive Kritik gelesen.
Inzwischen war es aber so spät geworden, dass es sich nicht mehr lohnte, in einen Imbiss zu gehen. Er wollte sich zuhause per Telefon sein übliches schmackhaftes Currygericht bestellen. Kaum war er dort angekommen, klingelte es, und Bettina war am Apparat. Ein emotionaler Notfall, denn die Freundin hatte sich von ihrem Partner getrennt. Erschöpft legte Christoph nach zwei Stunden auf. Jetzt war er zu müde für Zurück in die Zukunft. Er würde den Film morgen anschauen, auch wenn er die lästige Verspätungsgebühr in der Videothek bezahlen musste. Um sich abzulenken, schaltete er den Fernseher an und zappte herum. Schon bald landete