Ende des 19. Jahrhunderts veränderten wichtige Erfindungen die Welt für immer. Mehrer Tüftler experimentierten mit der Übertragung von Sprache durch das Telefon, 1888 hatte Berta Benz ihre Reise mit dem bisher unbekannten Automobil von Mannheim nach Pforzheim unternommen, und das Grammophon spielte die ersten Schallplatten.
Viele Neuerungen haben den Alltag der kommenden Generationen transformiert. Und sie prägen uns heute noch. Wir können uns ein Leben ohne Auto (in Zukunft eher mit Elektromotor und im Carsharing) nicht vorstellen. Festnetztelefone sind zwar in weiten Kreisen nicht mehr angesagt, seitdem das Smartphone auch Telefonverbindungen herstellen kann, und der CD-Spieler weicht zunehmend Spotify. Aber ohne die Erfindungen der damaligen Zeit wäre dies alles nicht vorstellbar. Und eine weitere Innovation hatte die Welt ein für alle mal verändert.
Die interessanteste Erfindung der Neuzeit
Am Abend des 1. November 1895 starrten die Zuschauer im Wintergarten Varieté in Berlin auf eine weiße Leinwand, die auf einer der Seitenbühnen aufgespannt war. Es war die Schlussnummer, nachdem Zauberer und andere Artisten das Publikum zum Staunen gebracht hatten. Plötzlich flimmerten zwei Männer auf der Projektionsfläche. Den Betrachtern blieb der Mund offen stehen, über das, was sich da vor ihren Augen abspielte. Bewegte Bilder, die die Realität wiedergaben. Als schließlich ein boxendes Känguru erschien, ein Tier, das die meisten der Zuschauer noch nie lebendig gesehen hatten, begleitete Applaus die Entstehung des Kinos.
Am Schluss verbeugten sich die Abbilder der beiden Erfinder des von ihnen sogenannten Bioscops, die Brüder Emil und Max Skladonowsky auf der Leinwand vor dem begeisterten Publikum.
In den Zeitungen wurde das Programm fortan als die »interessanteste Erfindung der Neuzeit« angekündigt. Kaum einer konnte ahnen, wie recht die Werbung damit haben würde. Vier Wochen lang zeigten die beiden Skladonowskys ihre Filme vor ausverkauftem Haus. Und schon nach kurzer Zeit führte sie eine Tournee ins Ausland.
Zeitgleich befassten sich auch zwei andere Brüder mit der Idee, bewegliche Bilder aufzunehmen und in der Öffentlichkeit vorzuführen. Es waren die Franzosen Auguste und Louis Lumière. Mit ihrem Cinématographen hatten sie am 22. März des gleichen Jahres ihren Film La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon dargeboten – allerdings vor einem geschlossenen Publikum. Die erste öffentliche Aufführung sollte zwei Monate nach der Berliner Vorführung im Januar 1896 in Paris stattfinden.
Die Skladanowkys fuhren mit ihrem Bioscop Ende Dezember ebenfalls in die französische Hauptstadt. Es waren mehrere Vorstellungen in dem Varieté Folies-Bergère vereinbart. Als die Lumières davon Wind bekamen, legten sie ihre Premiere vor die Vorführung der beiden Brüder aus Deutschland auf den 28. Dezember in einen kleinen Raum im Grand Café. Zehn Filme von maximal einer Minute wurden dem zahlenden Publikum vorgeführt, darunter eine Badeszene am Meer und die Fütterung eines Babys.
Als die Skladanowkys bei ihrer Ankunft von der Konkurrenzveranstaltung erfuhren, arrangierten sie einen Besuch im Grand Café, um die Technik in Augenschein zu nehmen. Was sie sahen, erschreckte sie, denn die Erfindung der Gebrüder Lumière war ihrer technisch weit überlegen. Der Direktor des Folies-Bergère sagte die geplante Aufführung des weniger ausgereiften Bioscops darauf kurzerhand ab.
Wieder zurück in Berlin schwante den Skladanowkys, dass es mit ihrer Erfindung nicht einfach werden würde. Denn nicht nur war ihre Technik komplexer und von geringerer Qualität, zudem hatten sie es bei ihren Konkurrenten mit vermögende Fabrikanten zu tun, während sie arme Schausteller waren. Dennoch gaben sie sich Mühe, ihren Apparat noch weiter zu verbessern. Jedoch fehlte es an Kapital, sodass der Siegeszug der Erfindung aus Frankreich schließlich nicht mehr aufzuhalten war.
Wenig später zogen sich die Gebrüder Skladanowsky aus dem Geschäft zurück. Trotzdem gebührt den Berlinern die Anerkennung, dass ihnen die erste öffentliche Vorführung eines Films gelungen war.
Ein paar Jahre blieb das Kino oder »Kintopp«, wie es damals genannt wurde, ein Vergnügen, das Varietés und Gaststätten vorbehalten war. In dieser Zeit reichte es den Zuschauern oft, dokumentarische Szenen von kurzer Dauer aus unterschiedlichen Zusammenhängen vorgeführt zu bekommen. Das Spektakel an sich, bewegte Bilder zu sehen, war schon groß genug. Die Filmemacher investierten deshalb noch nicht in aufwendige Geschichten. Dies kam erst später, als der Reiz des Neuen verflogen war. Ab der Jahrhundertwende wurden nach und nach Kinos eröffnet – also Räume, die der regelmäßigen Vorführung von Filmen dienten.
Die ersten Lichtspiele zeigten den Zuschauern alltägliche Szenen, die nicht selten in fremde Welten führten. So konnte das Publikum von 1895 in einem 44 Sekunden langen Film die Place des Cordeliers à Lyon begutachten. Menschen gehen über den Platz, eine Straßenbahn fährt vorbei – Alltag also. Es war für die Anwesenden vor der Leinwand etwas Besonderes, denn die wenigsten kannten die Stadt Lyon oder waren dort gewesen. Das Kino ermöglichte ihnen damit eine vollkommen neue Erfahrung. Zwar hatte jahrhundertelang die Malerei den Menschen in die Lage versetzt Dinge wahrzunehmen, die ihnen fremd waren, und die Fotografie tat dies in weit dokumentarischer Form, aber die bewegten Bilder steigerten die Qualität des Erlebnisses noch einmal grundlegend. Der eigene Erfahrungshorizont erweiterte sich sprunghaft.
Es waren wieder die Gebrüder Lumière, die über ihre dokumentarischen Arbeiten hinaus die ersten fiktionalen Geschichten erzählten. Ihr L’enfant au ballon ist ein 42-sekündiger Kurzfilm aus dem Jahre 1896. Er handelt von einem kleinen Jungen, der mit seiner Mutter in einem Garten spazieren geht. Als die Frau sich auf eine Parkbank setzt, spielt das Kind mit einem Luftballon. Zwei Arbeiter nähern sich von hinten. Dabei erschrickt der Junge und lässt sein Spielzeug los. Die Aufregung ist groß, und alle schauen dem aufsteigenden Ballon hinterher.
Noch weiter ging der Zauberkünstler Georges Méliès, der den Film intensiv nutzte, um Fiktion zu erzählen. Sein Le Voyage dans la Lune aus dem Jahr 1902 basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jules Verne. Darin wird die Geschichte einer Expedition zum Mond erzählt. Sechs Astronauten werden auf den Weg zum Erdtrabanten geschossen und landen auf der zerklüfteten Oberfläche. Nach einer kurzen Besichtigung und einem erholsamen Schlaf geraten sie in eine Höhle, in der sie die Aufmerksamkeit der Mondbewohner auf sich ziehen. Das wilde Volk greift die Fremden an und nimmt sie gefangen. Am Ende einer Verfolgungsjagd gelingt es den Astronauten, wieder zur Erde zurückzukehren, wo sie begeistert empfangen werden.
Dieses kleine Werk markiert den Beginn des filmischen Geschichtenerzählens. Er ist insofern der Vorläufer von Casablanca, Star Wars und Game of Thrones, denn nachdem sich der Kintopp zum Kino entwickelte und ausschließlich nur noch in eigens dafür hergerichteten Räumlichkeiten und nicht mehr zusammen mit Zauberern und Jongleuren stattfand, setzte sich zunehmend das die Fiktion im Film durch.
Was sich da buchstäblich vor den Augen der Welt abspielte, war eine Revolution, ähnlich wie es der Buchdruck mehr als vierhundert Jahre früher gewesen war. Die Menschheit nahm zum ersten Mal bewegte Bilder von etwas wahr, das nur als Abbild vorhanden war. Ermöglichte Gutenbergs Erfindung, Lektüre fast unbegrenzt zu vervielfältigen, so erlaubte der Film auch, dass diese einmal auf Zelluloid gebannten Abläufe massenhaft verbreitet werden konnten.
Was den Film dabei vor allem kennzeichnet, ist der Anspruch, wirkliches Leben zu zeigen. Er besitzt die Unmittelbarkeit, die uns suggeriert, dass wir dem Gesehenen beiwohnen. Auch wenn die Geschichte in einer fernen Zukunft spielt oder in frei erfundenen Welten, so vermittelt sie dem Zuschauer dennoch das Gefühl einer Realität. Das unterscheidet diese interessante Erfindung der Neuzeit von der Sprache.