»Quatsch … Nein«, sagte Sue und umfasste unauffällig ihren linken Arm, der zum Glück gerade sichtbar war.
»Na dann ist ja alles in Ordnung. Solltest du in der Schule merken, dass es partout nicht geht, ruf Mama an. Ich kann dich heute nicht abholen.«
Und das war der andere Punkt, warum Sue mies gelaunt war. Ihr Vater hatte ihr beim kurzen Frühstück mit Rührei und frischen Tomaten erklärt, dass er für ein paar Tage auf Konzertreise nach Prag müsse. Sue war vor Schreck das Ei gleich wieder aus dem Mund gefallen.
»Du kannst mich jetzt echt nicht mit Mama allein lassen. Nicht nach gestern Abend.« Aber ihr Vater hatte nur mit den Augen gerollt, sich seinen großen Kontrabass geschnappt und war nach draußen gegangen. Sue, die sich schnell einen zweiten Schulrucksack besorgt hatte, rannte ihm hinterher.
»Es sind nur fünf Tage«, sagte Christoph und sperrte die Haustür zu.
»’ne halbe Ewigkeit«, erwidert Sue.
Ihr Vater ignorierte das Mädchen und ging den kleinen, vom Tau feuchten Pfad durch den Garten hinab zur Straße, wo der blaue Bus parkte. Aber Sue wollte nicht so einfach aufgeben. »Totes Mädchen gefunden«, sagte sie dramatisch, »lag seit Tagen in ihrem Bett, niemand hat sie vermisst.«
Christoph blieb stehen.
»Du übertreibst. Maßlos.«
»Tu ich das? Ich bin gestern mit gefühlt tausend Litern Flüssigkeit überschüttet worden. Keiner sagt mir, was das für’n Zeug war und keinen scheint’s zu interessieren.«
»Mama schon«, erwiderte Christoph und öffnete die Tür vom Bus.
»So’n Quatsch.«
Christoph seufzte. »Sie hat mir versichert, dass die Flüssigkeit für Menschen vollkommen ungefährlich ist.« Er verstaute seinen riesigen Kontrabass im Bus.
»Und das weiß sie, weil sie das Zeug vorher an kleinen süßen Mäusen in ihrem Labor getestet hat?«
»Sue, es reicht!« Christoph stieg in den Bus und wartete, während Sue ihn durch die Windschutzscheibe beobachtete. Er hupte mehrmals ungeduldig, bis Sue sich auf den Beifahrersitz setzte. Sie holte ihren Supermooon-Thermobecher aus dem Rucksack und öffnete den Verschluss. Heißer Dampf stieg aus der kleinen Öffnung, es roch nach Pfefferminz.
»Weißt du eigentlich, dass Mama meine Jacken chippt?«
»Siehst du«, antworte ihr Vater und versuchte mal wieder verzweifelt, den Motor zum Laufen zu bringen. »Sie macht sich eben Sorgen.«
»Ich bin aber kein Haustier, das man einfach so markiert.«
Der Motor erstarb kläglich und Christoph drehte sich genervt zu Sue. »Hör mal. Mama hat mir versprochen, dass sie sich morgen freinimmt. Dann könnt ihr was Schönes zusammen machen.«
Sue lachte. »Soll ich dir sagen, wie das wird? Sie hat ’ne coole Idee, wir fahren in die Stadt, dann klingelt ihr Handy und …«
»… ihr stopft euch mit fünf Kilo Popcorn den Bauch voll und schaut kitschige Filme. Klingt doch super.«
»Schön wär’s. Ihr Handy wird sofort klingeln, sie wird sagen: Dauert nur zwei Minuten Schatz, und dann sitze ich für die nächsten zwei Stunden auf einer Parkbank mitten in der Stadt und zähle Taubenscheiße.«
Endlich sprang der Bus an. Gerade als Sue einen Schluck aus dem Thermobecher nehmen wollte, legte ihr Vater den Rückwärtsgang ein, fuhr an und heißer Pfefferminztee schwappte auf ihr neues Captain-America-T-Shirt.
Auch ihr linker Arm bekam ein paar Tropfen ab und ein stechender Schmerz durchzuckte sie. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Arm, das spürte Sue. Sie wusste nur nicht genau, was. Noch einmal ließ ihr Vater den blauen Bulli ruckartig anfahren.
»Papa!«
»Was?«
»Machst du das absichtlich?«
»Nie im Leben. Ach übrigens, du hast da gekleckert.«
Christoph lachte, gab Gas und rauschte durch den herbstlichen Vorort von Markholm, der sich auf den nahenden Winter vorbereitete.
Gib mir ein Tee
Sues Schule stand am Rand der Altstadt von Markholm in einer sehr ruhigen Gegend. Von Ostern bis Oktober kamen hier sonst nur Touristen her, um die altehrwürdigen Mauern des ehemaligen Klosters zu betrachten, in der jetzt mit der Markholm High eine Eliteschule war, die allerdings, wie Sue fand, viel zu viel Geld kostetet. Und Geld war im Hause Hartmann stets notorisch knapp, vor allem wenn ihr Vater keine Konzerte hatte.
Der blaue Bus hielt direkt vor dem eisernen Tor zum Schuleingang und Sue sprang hinaus. Heute hatten sie Glück. Sie waren so spät dran, dass die SUVs der Neureichen, die Suffis, wie Sues Vater sie gern nannte, schon weg waren.
»Verräter!«, rief Sue laut, um den stotternden Motor zu übertönen, und schmiss, gespielt beleidigt, die Tür zu.
»Schmolli!«, sagte Christoph und schmunzelte.
Sue blieb stehen. Sie wartete kurz, ob ihr Vater noch eine zweite Beleidigung nachschob, drehte sich dann um, rannte zu ihrem Vater zurück und fiel ihm mit voller Wucht um den Hals.
»Hab dich lieb«, sagte ihr Vater.
»Ich dich auch«, antwortete Sue. Ihr war egal, ob andere das peinlich fanden. Sie jedenfalls umarmte ihren Papa.
»Was’n das?« Christoph deutete auf ihren Rucksack mit den pinken Blümchen und Schleifchen. Die Frage musste ja kommen, dachte Sue, und wollte am liebsten antworten: Da mein eigentlicher Rucksack randvoll mit stinkender Kotze ist, war ich gezwungen, dieses abartige Geschenk meiner Tante, die mich damit irgendwie zu einem besseren Mädchen erziehen wollte, mit in die Schule zu nehmen. Stattdessen fragte sie lediglich: »Wieso?«
»Na … ungewöhnlich, die Farbe, für dich.«
Sue drehte sich um, ließ ihren Vater stehen und lief singend Richtung Schule: »Viel Spaß in Prag!«
Christoph nahm den Singsang auf und antwortete: »Viel Spaß in der Schule!«
»Hab ich immer.«
»Lügnerin«, flüsterte Christoph. Sue hatte es trotzdem gehört.
Es klingelte. Sue wusste, dass sie, wenn sie in diesem Tempo weiterlaufen würde, sehr wahrscheinlich die ersten Minuten der Mathestunde verpassen würde. Was an sich kein Problem war. Aber dadurch, dass sie schon zwei Einträge im Klassenbuch hatte, wollte sie unter allen Umständen ein nerviges Elterngespräch vermeiden. Also beschleunigte sie, bog in den langen Gang mit den Spinden ein und steuerte zielgerichtet ihren grauen Schrank an.
Rucksack ab, Schlüssel rein und … Igitt. Ein fetter, nach Himbeere stinkender Kaugummi zog beim Öffnen der Schranktür einen langen Faden. Irgendein Idiot hatte dieses ekelhafte Zeugs in die Ritze ihres Schranks gedrückt. Was für eine hirnfreie Aktion.
Mit einem Taschentuch entfernte sie den Kaugummi und sah, dass an jedem Schrank kleine grüne Flyer steckten, außer an ihrem. Es war Werbung für die große Halloween-Party der Schule, die Zicke Eileen und ihre Barbietruppe organisierten und die natürlich von Eileens Vater finanziert wurde. Schon seit den Sommerferien gab es auf dem Schulhof kaum noch ein anderes Thema. Wer würde kommen? Welches Kostüm wäre passend? Was würde es zu essen geben? Sue gähnte. Alles pure Langeweile. Sie holte ihr Supermoon-Comic, das Einzige, was im ansonsten leeren Rucksack war, heraus, schmiss den pinkschwarzen Girlie-Sack ins Innere und verschloss die Tür. Da hörte sie eine Stimme.
»Eine Halloween-Party? Cool!«
Sue sah auf. Vor ihr stand ein Junge, den sie hier noch nie gesehen hatte. Mit cooler Lederjacke, einer roten Wollmütze und hübschem Gesicht.
»Äh … Hi!«, stammelte sie.
Der Junge zeigte auf