INVISIBLE SUE – PLÖTZLICH UNSICHTBAR
MEIN NAME IST SUE
– Aus meinem Tagebuch –
Mein Name ist Sue, ich bin zwölf Jahre alt, groß, also normal groß, schlank – aber nicht so übelst schlank wie Eileen oder all die anderen Barbies aus meiner Klasse. Für die bin ich wahrscheinlich eher fett. Na ja. Was soll’s. Schokolade ist nun mal ganz lecker.
Ich habe langes, rotbraunes Haar, leider viel zu dünn, keine Freunde und bin in der Schule mittelgut. Also so gut, dass niemand Fragen stellt. Aber auch nicht so gut, dass ich überall Einsen habe. Geschwister habe ich keine, was gut ist. Ich glaube, Papa wollte immer noch ein Kind, aber Mama ist ja nie da und arbeitet immer. Und wenn man nicht da ist, na dann kann das auch nichts werden mit den Babys. Es sei denn, sie werden doch vom Storch gebracht. Haha.
Was soll ich noch sagen? Was sagt man so, wenn man sich selbst vorstellt? Ich kann nicht singen, aber dafür ganz gut malen, ich mache keinen Sport. Zu anstrengend. Außerdem komme ich im Sportunterricht nicht mal die Stangen hoch. Und werfen kann ich auch nicht. Was aber an Papas Genen liegt, der ist da auch echt ’ne Niete. Ich lese gerne und viel, gehe ins Kino und schaue mit meinem Papa Filme, die ich eigentlich noch nicht sehen darf. Was Mama nicht weiß. Ansonsten … Ich bin ein Niemand. Die Lehrer können sich nicht mal meinen Namen richtig merken. Was egal ist, ich weiß zum Beispiel auch nicht, wie unser Mathelehrer heißt. Interessiert mich aber auch nicht. So wie Mode. Ich hasse einkaufen. Außerdem habe ich sowieso nur Pullis mit Kapuze. Die sind cool.
Ich liebe Comics, vor allem Superhelden-Comics, und meine Lieblingsfigur ist Supermoon – kennt kaum jemand, ich weiß, aber Supermoon ist die beste Superheldin der Welt. Wer braucht schon Batman oder Superman? Immer wenn ich Zeit habe, also oft, lese ich in diesen Comics. Ich wäre so gern eine echte Superheldin. Dann würde sich endlich auch mal jemand für mich interessieren. Aber meine einzige Superkraft ist, dass ich Geschichten spinnen kann. Sagt mein Vater. Und dass sich niemand an mich erinnert. Oder an meinen Namen. Na ja … Eine Dose Mitleid. Zisch. Wird schon, sagt Papa immer.
Vielleicht auch nicht. Ich lese jetzt erst mal ’ne Runde Comic. Der Rest kann mich mal. Tschüß. Sue. Out.
Supermoon
Es schien beinahe so, als wäre sie unsichtbar. Als würde sie nicht existieren. Sogar die fleißigen Kellner stolperten beinahe über sie, konnten im letzten Moment die klirrenden Gläser geschickt auf dem Tablett ausbalancieren, drehten sich kurz um, sahen das weißäugige Mädchen irritiert an und huschten weiter.
Theodora Summers, das vierzehnjährige blasse Mädchen, das von allen immer nur abfällig T gerufen wurde, stand am Rand der Party und beobachtete das hektische Treiben am Ufer des Lake Parker. Es war wie jedes Jahr beim Abschlussfest der Markholm High. Die angesagtesten Schüler tanzten in der Mitte, riefen sich übertrieben laut Sätze wie »Ich bin ja so cool« oder »Mein Vater ist so reich« zu, schlürften alkoholfreie Cocktails und taten so, als würden sie mit ihren Fanta-Gläsern Gin Tonic oder Whiskey trinken. Die nicht so angesagten Schüler standen etwas verloren am Rand, nippten an ihrem Orangensaft und erweckten den Anschein, als hätten sie Spaß.
Theodora gehörte zur zweiten Gruppe. Aber selbst die Außenseiter wollten mit dem schüchternen Mädchen mit dem ungewöhnlich silbern weiß leuchtendem langen Haar und den tollen Augen nichts zu tun haben. Einige hatten sogar Angst vor Theodora. Sie beschimpften sie als Hexe oder Missgeburt.
Eigentlich war sie nur wegen ihres Vaters hier, der nicht müde wurde, seiner Tochter zu erklären, wie wichtig Freunde sind. Sie hatte ihr Möglichstes getan, war einmal über den Platz gelaufen, hatte sogar gelächelt, was sie vorm Spiegel lange üben musste, und wollte gerade wieder gehen, als sie unten am Ufer des Sees ausgerechnet mit Matt zusammenstieß. Dem Jungen, in den fast alle Mädchen der Markholm High verschossen waren und der beim Basketballspiel für so lautes Gekreische und Herzrasen sorgte, dass die Schulleitung extra Sanitäter an das Spielfeld stellte, die sich nur um die »Matt-Fans« kümmerten.
Für einen Moment sahen sich beide übertrieben lange an, bevor Matt entschuldigend versuchte, seinen beim Zusammenstoß verkleckerten Kirschbananensaft von Theodoras Kleid zu wischen. Was die Sache allerdings eher verschlimmerte und den Fleck so richtig schön breit schmierte.
»Sorry … Theodora … ich hab dich nicht gesehen!«
Theodora blinzelte überrascht. Matt kannte ihren Namen. Er wusste, wie sie hieß, und hatte nicht T zu ihr gesagt. Sie wünschte sich, dass dieser Moment ewig dauern würde.
Aber genau das tat er natürlich nicht. Wild geifernd kam Carol, Matts Freundin, angerannt, die irgendwie aussah wie eine zum Leben erweckte Barbie. Carol genügte ein Blick aus ihren völlig überschminkten Augen, um die Situation einzuschätzen. Ohne weiter auf ihren Freund zu achten, der blitzartig seine Hände von Theodoras Kleid wegzog, ging sie auf das im Vollmondlicht leuchtende Mädchen zu. Es war schulbekannt, dass Carol und Theodora alles andere als beste Freunde waren. Carol nutzte jede sich ihr bietende Gelegenheit, um Theodora auflaufen zu lassen oder, was schlimmer war, um sie vor allen zu demütigen.
»Hände weg von Matt, du Freak!«
Carol schubste Theodora beiseite. Die wollte etwas erwidern, gab allerdings nur wirres Zeug von sich.
»Hast du was gesagt?« Carol grinste.
Theodora hörte Gekicher und Gelächter. Schweißperlen rannen über ihre Stirn. Natürlich hatten die anderen die Szene sofort bemerkt, sogar der öde DJ mit seinen 70er-Jahre-Schnulzen hatte seine schreckliche Musik leiser gedreht. Als würde jetzt der offizielle Teil beginnen und jemand eine Rede halten. Alle starrten fasziniert auf die beiden. Denn wenn Carol mal ein Opfer gefunden hatte, schienen alle auf seltsame Art vereint. Carol versprach einfach gute Unterhaltung.
Matt versuchte seine Freundin zu beruhigen. Zwecklos. Mit gesenktem Kopf trat Theodora zurück. So wie sie es immer tat. So wie sie es gelernt hatte, Problemen aus dem Weg zu gehen. Auch wenn ihr Vater anderer Meinung war.
Aber Carol wollte nicht aufhören. Sie kam gerade erst richtig in Fahrt. Dass ausgerechnet ihr Matt versuchte, sie von Theodora wegzuzerren, machte die Situation nicht besser. Immer mehr hässliche Worte prasselten auf Theodora ein, immer verletzender und gemeiner wurde Carol. Theodora spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Wie Wut in ihr aufbrannte. Ihr Atem wurde schneller, ihre zierlichen Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, bis Blut floss. Der Mond über dem Steg am Wasser schien augenblicklich größer und größer zu werden.
»Ja, hau nur ab, du Missgeburt. Dich hat hier niemand eingeladen … Weißauge!« Das war zu viel.
Eine Wasserfontäne schoss aus dem See. Dann eine zweite und eine dritte, bis zu vier Meter hohe Wellen folgten ihnen. Theodora bewegte ihre Hände und das dunkle eiskalte Wasser des Sees gehorchte ihr wie ferngesteuert, wie die Musiker eines Orchesters. In Zeitlupe drehte sie sich um, sah ihre Widersacherin mit funkelnden Augen an und das Wasser ging mit einem gigantischen Schwall über dem keifenden Mädchen nieder. Genau so, wie Theodora es wollte.
Das Schreien war verstummt, und da, wo Carol eben noch mit ihrem weinroten Kleid stand, war nur noch eine große nasse Pfütze. Ängstlich starrten alle anderen Theodora an, die am ganzen Körper leuchtete und doppelt so groß erschien wie zuvor.
Supermoon war geboren.
Vergessen