Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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nach den Ferien das Gymnasium dann begann, wurde er jeden Tag aufs Neue an diese Bemerkung seines Vaters erinnert. Denn jeden Morgen, wenn er das Klassenzimmer betrat, schlug ihm schon an der Tür der Duft des Leders der neuen Aktentaschen entgegen – so riechen nur die Klassenzimmer der Sextaner. Er blickte dann manchmal trotzig zu seinem abgescheuerten Schulranzen hinunter. ‚Dem Alten werde ich es erst noch zeigen. In spätestens zwei Jahren werde ich mich mit Viktor über Dinge unterhalten, von denen er keinen blassen Schimmer hat.‘ –

      Viktor zögerte einen Augenblick an der Tür zum Herrenzimmer, dann klopfte er vorsichtig an, denn er fürchtete zu stören. Aber sogleich hörte er die Rückfrage seines Vaters und ohne Pause dazwischen auch gleich seine Antwort darauf:

      „Ja? – Bitte!“

      Der Konsul faltete in seinem Lesesessel die Zeitung zusammen, lächelte Viktor aufmunternd zu und klopfte mit der Hand auf seine Knie und Oberschenkel, die Aufforderung für Viktor, sich da hinzusetzen. Da war er schon als kleines Kind bei den ersten Zwiegesprächen mit seinem Vater gesessen, und der Konsul wusste, wenn Viktor bei ihm im Herrenzimmer erschien, was nur noch gelegentlich geschah, dann beschäftigte ihn etwas Besonderes.

      „Bald wirst du mir zu schwer sein, Viktor!“

      „Bitte um eine nur kurze Audienz!“, tat Viktor überkorrekt. „Stell dir vor, der Ludwig hat ein Koppel mit Schulterriemen!“

      Der Konsul zog aufmerksam die Augenbrauen hoch, und Viktor erzählte ihm, wie er vor zwei Tagen, zusammen mit Bienchen, unten im Souterrain bei Frau Herkommer gewesen sei, um für die Köchin den großen Einwecktopf heraufzuschaffen. Herkommers hätten ja keine richtige Garderobe, gleich hinter dem Abschluss aber gäbe es einige Kleiderhaken an der Wand, und da habe Bienchen überrascht auf das Koppel gedeutet, das dort hing, und ihn dabei fragend angesehen.

      Viktor hatte sofort gespürt, dass es sich bei diesem Koppel nicht um etwas Belangloses handelte und dass er das unbedingt aufklären musste. Bienchen mochte da schon etwas mehr geahnt haben. Ohne Bienchen wäre er ja achtlos daran vobeigegangen.

      „Ein Koppel?“, fragte sein Vater. „Noch aus dem Krieg? Schau, dieser Herkommer! – Aber wieso mit einem Schulterriemen?“

      „Nein, nein, das war nicht von seinem Vater. Es ist viel zu klein, das passt nur Ludwig.“

      Ludwig, überlegte der Konsul, ist der nicht noch zu jung für diese SA-Jugend? Hitlers Jugend oder Hitlerjugend nennen sie sich.2 Vielleicht haben die Eltern ihm das Koppel geschenkt? Und um sicherzugehen, fragte er: „Wie sah denn das Koppelschloss aus? Wenn da ‚Gott mit uns‘ draufstand, ist es noch aus dem Krieg.“

      „Nein, da war wie so ein dicker Blitz drauf.“

      „Hm“, meinte der Konsul nachdenklich, „das sind in der Hitlerbewegung diese merkwürdigen Runenzeichen.“

      „Die Hitler?“, horchte Viktor auf. „Sind das die mit den Trommeln nachts gewesen?“

      Viktor erinnerte sich mit Grauen. Das war neulich eine fürchterliche Nacht gewesen. Aus dem ersten Tiefschlaf hatte ihn ein ferner Lärm, der drohend aus der Innenstadt herübergedrungen war, aufgeschreckt. Dumpfe Geräusche, wie er sie noch nie gehört hatte, die ihn aber doch nicht ganz aus dem Schlaf gerissen, sondern nur zur Hälfte wach gemacht hatten – wach genug, um das Unheil mit tödlicher Angst zu spüren, doch nicht wach genug, den Spuk abzuschütteln, ans Fenster zu treten und mit klarem Kopf nachzuforschen, was das sein könnte.

      Das hatte er noch nie erlebt: nur Angst, nichts anderes als Angst. Sie hatte alles überflutet und durchtränkt, jeden Gedanken, jede Hoffnung. Nur noch aus Angst hatte er bestanden. Ob da ein riesiges unterirdisches Ungeheuer emporgebrochen ist und jetzt die Stadt erobert? Ob so der Weltuntergang beginnt? Nach dem machtvollen rhythmischen Dröhnen und Hallen dann immer wieder minutenlang dieses hundertstimmige zischende Rasseln. Dass die sich wandelnden Geräusche allmählich näher kamen, spürte er mehr, als dass er es hörte. So lag er erstarrt, aber doch zitternd im Bett, regungslos festgehalten von seiner eigenen Angst.

      Es hatte lange gedauert, bis er sich endlich, ohne Licht zu machen und barfuß schleichend, mit flachem Atem ins Schlafzimmer seiner Eltern hinüberretten konnte, wo er dann – obwohl viel zu groß schon, um wie ein Kind zu weinen – hilflos in ein lautes Heulen der Verzweiflung ausgebrochen war.

      Auch die Eltern waren längst wach geworden, seine Mutter war aufrecht im Bett gesessen, etwas verstört, oder nur vom Licht geblendet? Sein Vater dagegen hatte ihn damals mit seiner sonoren Stimme, die keinen Platz mehr ließ für die geringste Angst, bald beruhigt. Das seien die Nationalsozialisten, die Braunen, die Hitlerleute, und zwar diese Trommler von der SA, die da durch die Straßen zögen, um alle einzuschüchtern mit ihren dumpfen Landsknechtstrommeln und den rasselnden Marschtrommeln dazu, allerdings ohne die Pfeifer, die bei einer anständigen Militärmusik eigentlich mit dazugehörten, dann klinge das alles viel frischer und auch nicht so drohend – „aber die Nazis3 haben ja keine Ahnung!“ –

      Ordnung im Kopf fängt immer mit neuen Zusammenhängen an, die aufscheinen. Ludwigs Koppel gehörte also zur Hitlerbewegung, ging Viktor auf, und es war ein Teil der Hitleruniform, und von diesen Hakenkreuzlern war seine Schreckensnacht inszeniert worden. Diese Schreckensnacht war bis dahin für Viktor, so intensiv er sie erlebt hatte, abstrakt im Ungewissen geblieben, weil er noch nie auch nur das Geringste von ihren Urhebern gesehen, sondern nur ihren bedrohlichen Lärm gehört hatte. Doch mit Ludwigs elendem Koppel hatte diese grauenvolle Nacht mitsamt der ganzen Hitlerbewegung plötzlich einen Ankergrund gefunden.

      In den folgenden Tagen prahlte Ludwig immer wieder einmal mit seinem neuen Koppel auf dem Hof herum, vermied dabei aber, seinem Vater zu begegnen. Er übte den Hitlergruß im Gehen und im Stehen, schlug die Hacken zusammen und presste dabei die linke Hand an die Hosennaht. Mutter Herkommer sah ihm mit nachsichtigem Lächeln zu, ein wenig Stolz war auch dabei.

      Schon der Klang des Wortes ‚Koppel‘ imponierte Ludwig. Koppeln, Ankoppeln, da hörte man die beiden Teile präzis ineinander klacken. Koppel, nicht Gürtel – pah, was ist schon ‚Gürtel‘? – oder Gurt oder gar Riemen – Leibriemen womöglich? – nein, K-o-p-p-e-l, basta! Und nicht mit irgendeiner windigen Schnalle dran, sondern mit einem Schloss. Mit einem Koppelschloss!

      Als Ludwig Viktor in den Hof kommen sah, klopfte er mit der flachen Hand ein paar Mal lachend auf das Koppelschloss. Dann schlug er erneut die Hacken zusammen, riss den rechten Arm hoch und rief: „Unsere Fahne ist die neue Zeit4! Die neue Zeit, Viktor, verstehst du?“

      Das war bestimmt nicht auf seinem Mist gewachsen. Was Ludwig offenbar so begeisterte, das Koppel mit dem Koppelschloss und dem Zeichen darauf, das war für Viktor die zum Gegenstand verdichtete nächtliche Bedrohung, das Konzentrat des Bösen, das die Weite einer ganze Nacht hatte ausfüllen und vielleicht die ganze Welt hätte überfluten können.

      „Soll ich dir mein Koppel mal ausleihen?“, fragte Ludwig gutgelaunt. Viktor prallte fast zurück; nicht einmal anfassen hätte er es mögen nach dieser Nacht neulich. –

      4_Zur Sommerfrische auf dem Bauernhof

      Kein Zweifel, Viktor hatte Reisefieber. Er strich am frühen Morgen, während noch alles schlief, durch das Haus, obwohl er doch sonst, jedenfalls seit er zur Schule ging, morgens eher schwer aus dem Bett herauszubringen war. Auch drunten im Souterrain bei Herkommers schien noch alles ruhig zu sein. Ob Ludwig auch schon wach war? Onkel Xaver, der aber gar nicht sein richtiger Onkel war, sondern der Onkel von Ludwig, würde sie nach dem Frühstück abholen und sie in die Sommerfrische auf seinem Bauernhof fahren. Erst war bei Herkommers nur die Rede davon gewesen, dass Ludwig wahrscheinlich die Sommerferien auf dem Land verbringen würde, aber dann hieß es, dass auch Viktor mitreisen sollte. Das sei seiner Entwicklung förderlich, wie sein Vater, der Konsul, meinte, obwohl seine Eltern keinen allzu engen Kontakt zu Ludwig und zur Familie Herkommer wünschten – nicht nur, weil sie um die dauernden Rivalitäten und Spannungen zwischen den beiden Buben wussten.

      Auch Bienchen würde mitkommen, das freute Viktor besonders. Sie war von allen