Und nach einer Pause: „Manchmal kann ich beim Zuhören fast spüren, wie es sich dann viel leichter atmet, wenn sie alle wieder beieinander sind und nicht jeder stolpernd seinen Platz suchen muss und dabei dauernd mit einem anderen zusammenstößt.“
Le Chef blickte ihn dabei nachdenklich an, und Eugen Saller wiederholte murmelnd, wie um zu zeigen, dass er alles verstanden habe: „Jeder ist irgendwie mit jedem verbunden, ohne dass er das merkt –“
„Aber“, sagte Le Chef, „so ist das auf der ganzen Welt – mit allem! Nur sieht man’s nicht so deutlich wie hier beim Schnarchen, wo sie alle so dicht beieinanderliegen.“
Trotzdem war sich Eugen Saller erst viele Jahre später sicher, dass das damals wirklich so war, wie es ihm Le Chef erklärt hatte, und ihm da nicht ein Theater vorgespielt worden ist. Aber so harmlos wie am Hartmannsweilerkopf, wo schlafend einer am anderen baumelte und es nur um das Schnarchen ging, war das dann gar nicht mehr. –
2_Ungleiche Rivalen
Viktor Zabener wartete in der Hitze schon eine ganze Weile. Um zu vermeiden, dass man sie zu Hause gemeinsam weggehen sah, hatten sie sich auf vier Uhr an der Kirche verabredet, und er war schon etwas früher gekommen, weil er sich vor Ludwig immer noch ein wenig fürchtete und nicht wollte, dass Ludwig auf ihn warten muss. Im Ablesen der Uhr fühlte er sich, eigentlich schon seit sie zur Schule gingen, recht sicher, aber je länger er so dastand und wartete, desto mehr zweifelte er, ob es tatsächlich vier Uhr war, denn die Uhr an der Kirche hatte an den Stellen, wo sonst die Zahlen stehen, nur unregelmäßige Striche. Doch dann begann vom Turm das Läuten zur vollen Stunde. Er merkte gespannt auf und zählte dann am Ende die tiefen, ruhigen Stundenschläge mit. Es waren vier, er war erleichtert.
Der dicke Zeiger, der kürzere der beiden, auf den man sich am ehesten verlassen konnte, war schon wieder ein Stückchen weitergewandert, als er in der Ferne Ludwig kommen sah. Ludwig schlenderte und hatte nicht die geringste Eile. Als er hersah, winkte ihm Viktor stürmisch zu, mit beiden Händen über dem Kopf. Ludwig ließ einen winzigen Augenblick verstreichen, bevor er zurückwinkte, und er hob dazu nur kurz die linke Hand und den Unterarm.
Viktor mochte Ludwig, er mochte ihn sehr, gerade weil er so ganz anders war als er, aber Viktor spürte auch, wie schwer es ihm Ludwig manchmal machte. Ludwig, dieser kleine Vierschrot, der einen halben Kopf kleiner war als er, nutzte mit einer Instinktschläue sondergleichen auch die geringste Möglichkeit, die sich bot, um sich Viktor untertan zu machen und immer neue Abhängigkeiten zu schaffen, um so stets und überall zum unumstrittenen Anführer zu werden. Schon damals am ersten Schultag hatte er sich vorgedrängt.
„Ah, da sind ja unsere beiden Milchbrüder“, hatte sie der Lehrer frohgelaunt begrüßt und ihn gefragt: „Wie ich gehört habe, Viktor, bist du also der Milchbruder vom Ludwig?“
Viktor hatte nicht verstanden und den Lehrer ausdruckslos angeblickt. Dann hatte er zu Ludwig hinübergeschaut, und der hatte ausgelassen gerufen: „Nein, nein, ich! – Ich bin der Milchbruder, ich! Meine Mama hat mir immer gesagt, ‚du bist der Milchbruder vom Viktor‘!“
Aber der Lehrer war damit nicht einverstanden: „Wer hat denn euch beide, als ihr ganz klein wart – wie soll ich sagen? – wer hat euch da – äh, aufgezogen?“
„Ich glaube – ich glaube, mich haben sie immer zu Frau Herkommer runtergebracht“, hatte Viktor gestottert, das Thema war ihm peinlich.
„Ja, ich sag’s doch!“, hatte sich der Lehrer gefreut und ihnen dann erklärt: „Es stimmt also doch, ihr seid Milchbrüder, beide, das ist ja auch schön so! Aber deine Mutter, Ludwig, wird nie sagen, ‚du bist der Milchbruder‘, sondern du bist ihr Sohn, und der Viktor, das ist der Milchbruder dazu. Und dein Milchbruder, Viktor, das ist der Ludwig – ihr seid Milchbrüder, beide.“
Viktor hatte sich geärgert, dass Ludwig daraufhin sogleich mit allzu betontem Stolz zu ihm herübergeblickt hatte, als ob er ‚Siehst du!‘ hatte sagen wollen.
Die Luft über der Straße flimmerte, doch Ludwig war jetzt schon genau zu erkennen und Viktor freute sich, dass Ludwig, so schlendernd er auch ging, gleich da sein würde. Aber Ludwig verschwand erst noch einmal in einem Garten, Viktor sah ihm hilflos nach. Nach einer Weile kam er mit einem Apfel in der Hand wieder zum Vorschein. Auch das letzte Stück bis zu Viktor legte er nicht einen Schritt schneller zurück.
„Willst du?“, fragte er Viktor auf den letzten Schritten und streckte ihm den Apfel entgegen, aber dann biss er erst einmal selber hinein.
„Hast du das Geld dabei?“, fragte er kauend.
Viktor nickte und nestelte aus seiner Hosentasche dreißig Pfennig hervor, die er hatte auftreiben sollen, weil sie am Neckar ein Ruderboot mieten wollten. Die dreißig Pfennig zu beschaffen, das war gar nicht einfach gewesen, aber Ludwig zeigte sich nicht so erfreut, wie Viktor gehofft hatte. Viktor hatte die paar Münzen in Papier gewickelt, damit sie zusammenblieben, und das Einwickeln der Münzen hatte ihn an die Musikanten erinnert, die mit ihren sehnsüchtigen Melodien hin und wieder bei ihnen in den Hof kamen, und denen die Köchin und die Zimmermädchen eingewickelte Münzen runterwarfen, damit sie weiterspielten und auch mal wiederkämen. –
Ludwig ruderte als Erster, Viktor saß am Heck. Wenn man sich nahe genug am Ufer hielt, kam man auch flussaufwärts gut voran. Zwei kleine Mädchen am Ufer wedelten mit ihren Taschentüchern zu ihnen herüber, Viktor winkte zurück.
„Dumme Spaltpisser“, wandte sich Ludwig verächtlich ab.
Sie glitten an der Bretterwand des schwimmenden Bootsverleihs vorbei, der am Ufer festgemacht war.
„Da sind Hunderte von Paddelbooten und Kajaks drin“, erläuterte Ludwig, „wenn man ein eigenes Boot hat, kann man es da unterstellen. Das ist genauso auf Schwimmern gebaut, wie drüben im Rhein das Herweck.“
„Was ist das Herweck?“
„Das ist dieses Flussbad am Stephanienufer, weißte?“
„Ach so, jaja, diese große Badeanstalt, die kenne ich.“
„Nur ist die vielleicht zehnmal so groß, mit einem Café drin und einem Restaurant und Umkleidekabinen und so. Aber verdammt teuer der Eintritt. Da müssen wir unbedingt auch mal irgendwie rein“, sagte Ludwig, „schon wegen der halbnackten Weiber, die es dort hat.“
Das hätte er nämlich genau gehört, neulich, in der Reparaturwerkstatt, als der Autoschlosser seinem Vater, dem Chauffeur Herkommer, von der Badeanstalt erzählt hat.
„Wie sollen wir da reinkommen, du kannst ja nicht richtig schwimmen!“
Die Bemerkung verdross Ludwig, Schwimmen war das einzige, worin ihn Viktor übertraf. Und nur schwimmend konnte man heimlich in die Badeanstalt gelangen, da hatte Viktor schon recht, denn an der Kasse gab es kein Vorbeikommen. Unter den Treibgutabweisern, die noch außerhalb lagen, musste man sogar drunter durchtauchen und gleich nach dem Auftauchen einen der Zwischenräume zwischen den mächtigen schwarzen Pontons treffen, die die Badeanstalt trugen. Viel Zeit blieb einem dazu nicht, die Strömung war gewaltig, anhalten oder umkehren gab es nicht. Zwischen den Pontons dann, die gerade genügend Platz ließen für einen Schwimmer dazwischen, wurde es finster und unheimlich, und die rauschende Strömung wurde noch reißender und gurgelte an den Kanten der Pontons. Bevor es dann wieder ins Helle ging, war es gut, wenn es gelang, sich