„Überhaupt“, fuhr er nach einer kurzen Pause, in der er die Wirkung seiner Worte prüfte, fort, „was machen die schon im Parlament? Die quasseln und disputieren ununterbrochen. Anstatt was zu tun! Und was das alles kostet! Die, wo die größte Klappe haben, haben den größten Erfolg, das ist ja immer so. Aber mit bloßem Rumquatschen kommen wir weiss Gott nicht voran!“
Er nahm einen Schluck, und man konnte fast sehen, wie ihm im gleichen Augenblick Weiteres zum Thema einfiel, sodass er das Glas rasch wieder abstellte und ohne Zögern fortfuhr.
„Wenn’s nur beim Gequatsche bliebe! Aber die reden ja nur gegeneinander und zanken ununterbrochen und werfen sich die übelsten Schimpfwörter an den Kopf. Da kann nie etwas Gescheites herauskommen. Von meinem Kussäng, der schafft in Berlin bei Grieneisen, hab ich erzählt gekriegt, dass da manchmal im Parlament sogar richtige Prügeleien vorkommen! Das glaubst du nicht, hat er gesagt, wie sich diese Leute, die uns doch regieren sollen, in Wirklichkeit benehmen. Nee, das brauchen wir nicht.“
Herkommer, der sonst seine Unterordnung stets zu erkennen gab und dem Konsul manchmal fast zu devot auftrat, hatte jede Scheu verloren und war nicht mehr aufzuhalten. Dass die Herren offenbar nicht mitreden wollten, beflügelte ihn nur noch.
„Das hatte gerade noch gefehlt, dass wir zu allem auch noch die Regierungsform dieser Siegesstaaten auf die Dauer übernehmen! Oder? – Demokratie heißt immer auch Unordnung und Durcheinander!“
Zabener war es plötzlich peinlich, sich vorhin in Herkommers Gegenwart so unbeherrscht über die Politik geäußert zu haben. Man hätte Herkommer doch nicht in das Gespräch mit einbeziehen dürfen, denn was er jetzt, offenbar nicht ohne Behagen, von sich gab, das waren Stammtischparolen von irgendwelchen ominösen Parteitreffen in Hinterzimmern. Vielleicht würde man noch heraushören können von welchen.
Herkommer ließ sich dann noch lang und breit über die Rheinlandbesetzung und die Ruhrinvasion aus, wie er das nannte, durch die Franzosen und Belgier, kam ausführlich auf den Zerfall aller Ordnung (‚wo du auch hinschaust!‘) zu sprechen, wobei unter Ordnung, wie er betonte, auch Anstand und Sitte zu verstehen sei. ‚Da war ich doch neulich mit meinem Kussäng in Berlin ganz zufällig abends in die Kleiststraße gekommen, in der Nähe vom Nollendorfplatz, da ist auch das Kleist-Kasino und so – au Backe, kann man da nur sagen! Mein lieber Mann!‘ und er nickte dazu bedeutungsschwer; und schließlich nahm er sich zum Schluss noch ausführlich die ehemaligen deutschen Kolonien vor (‚die hätte man niemals aus der Hand geben dürfen‘) – alles, was er sagte, war zwar mit bemerkenswerten Details versehen, doch alles in der einseitigen Verzerrung einer Stammtischperspektive und natürlich stets vorgebracht in einem Ton höchster Gewissheit. –
Später dann, als Herkommer wieder abgezogen war, fragte Strauss, etwas erschöpft von dessen langem Monolog: „Was hat er wohl mit seiner Hand gemacht? Das ist mir noch nie aufgefallen, ich bin im ersten Moment beinah erschrocken, als er nach seinem Glas griff!“
„Verwundung im Krieg. Ihm fehlen drei Finger fast in ihrer ganzen Länge, er hat nur noch den Daumen und den kleinen Finger. Für ihn war das der Heimatschuss. Ich habe ihn dann erst ein paar Jahre nach dem Krieg zufällig wieder getroffen und sofort als Chauffeur eingestellt, er war im Krieg einer meiner besten Leute.“
„Und wie ist das passiert?“
„Herkommer war unser Spezialist, wenn es darum ging, in der Nacht vor einem geplanten Sturmangriff den Stacheldrahtverhau vor den feindlichen Gräben an bestimmten Stellen passierbar zu machen. Dazu musste er eine möglichst unauffällige Schneise schneiden, was aber ohne jedes Licht und absolut lautlos zu geschehen hatte, denn man befand sich nicht mehr weit von den feindlichen Gräben entfernt. Eine Sache von Stunden mit ganz langsamen Bewegungen – keine leichte Aufgabe! Die gingen immer zu zweit raus, als Werkzeug hatten sie einen großen Bolzenschneider von den Pionieren dabei, das ist so etwas wie eine übergroße Hebelzange, die der zweite Mann mit beiden Händen betätigte, während Herkommer – alles nur mit dem Tastsinn! – den Stacheldraht erfasste und in das geöffnete Maul des Bolzenschneiders schob. Dabei musste er auch während des Schnittes noch den Draht auf beiden Seiten des Bolzenschneiders gut festhalten, nur so lässt sich ein lautloser Schnitt erzielen und vermeiden, dass beim Abzwicken der ganze Drahtverhau zu sirren anfängt. Durch irgendein Missverständnis, sie waren schon fast fertig, ist dann das Unglück passiert: Herkommer hatte seine Hand, mit der er den Draht führte, noch nicht zur Seite genommen und die Finger waren ab.“
„Meine Güte, entsetzlich!“
„Aber was das Bemerkenswerte dabei war, Herkommer hat nicht den geringsten Laut von sich gegeben, sonst wären die beiden augenblicklich erledigt gewesen. Sie sind genauso lautlos wieder zurückgekrochen, wie sie hingekrochen waren.“
„Dieser Herkommer!“, sagte Strauss nicht ohne Respekt.
„Der Durchbruch an eben dieser Stelle ist uns übrigens dann im Morgengrauen gelungen“, fügte Zabener nicht ohne Stolz hinzu. „Heute lachen wir nur noch über die grauenhafte Geschichte. Herkommer hat nämlich zum Entsetzen meiner Frau die Angewohnheit, manchmal während der Fahrt in Gedanken eines seiner Nasenlöcher mit dem Stummel seines Zeigefingers zuzuhalten und zum anderen Nasenloch einen leichten Luftstoß herauszublasen. Wenn er dabei zufällig den Kopf zur Seite dreht, haben die Passagiere im Fond des Wagens der Eindruck, als sei er mit der Fingerspitze bis ins Gehirn hinaufgefahren.“
„Herkommer schien mir vorhin merkwürdig aggressiv“, meinte Strauss.
„Ja! Und auch so radikal in seinen Ansichten! So etwas kenne ich gar nicht an ihm.“
„Ich bin sicher, das hat man ihm irgendwo eingetrichtert. Der ist scharf gemacht worden!“
„Meine Frau hat früher manchmal bestimmte Herkommer-Ansichten, über die ich mich vielleicht etwas mokiert habe, beschwichtigend kommentiert, das sei eben die Stimme des Volkes. Da hatte sie nicht unrecht – was wissen wir denn schon, was in den Köpfen der Leute vor sich geht. Aber da war er eben immer viel besonnener als heute Abend.“
„Entweder haben ihn die Linken oder die ganz Rechten geimpft. Genau da sitzen doch die Verächter des Parlaments und die Republikfeinde!“
„Eher die Rechten, wahrscheinlich die Hakenkreuzler, wenn ich daran denke, was er zu den Kolonien gesagt hat. Mich interessierten übrigens früher bei seinen Reden während der Fahrt gar nicht so sehr die Meinungen, die in der Bevölkerung herrschen und die ja zum Teil äußerst gegensätzlich sind. Sondern mir ging es vor allem darum, etwas über die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung zu hören; die ist ja viel einheitlicher.“
„Ja, das begreife ich. Das ist richtig, die herrschende Stimmung ist fast noch wichtiger als die einzelnen Meinungen. Die sind immer kontrovers“, sagte Strauss.
„Herkommer verstand es dann auch immer sehr schön, klar zwischen seiner eigenen Gestimmtheit und der allgemeinen Grundstimmung in der Bevölkerung zu unterscheiden. Das finde ich bemerkenswert für einen Chauffeur! Natürlich wollte er mir dabei auch schmeicheln, wenn er betonte, dass es ihm bei uns ja nicht schlecht gehe und er deshalb gut lachen habe, aber die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung sehe halt doch anders aus.“
„Und wie sah er sie?“, sagte Strauss etwas ungeduldig.
„Bemerkenswert beständig war sie, ziemlich unverändert über all die Jahre hinweg. Diese Grundstimmung, das ist wie ein Teich, wie ein See ohne rechten Zufluss und Abfluss. Nur besondere Ereignisse, die es ja wahrhaftig zur Genüge gab, wühlen ihn auf. Denk’ nur an solche Katastrophen wie die Ermordung Rathenaus! Für kurze Zeit herrschte auf breiter Linie und über fast alle Parteien hinweg Empörung, aber die Geschlossenheit der Demokraten hielt nicht an. Ich habe oben noch das Extrablatt von der Vossischen Zeitung, man sollte es einrahmen lassen. – Wie bin ich jetzt gleich auf Rathenau gekommen? Ach ja, die besonderen Ereignisse. Die stürzen dann wie Steine oder Felsen in diesen See und wühlen das Wasser auf, aber immer nur für kurze Zeit. Dann stellt sich der alte Zustand wieder ein.“
„Aber nun sag’ endlich, was war denn der alte Zustand?“
„Die