Er hatte versucht, ihm mit einem ebenso schönen Brief zu antworten. Aber was sollte er Viktor schon mitteilen? Es gab überhaupt nichts Neues hier, und die Gefühle, die er Viktor gegenüber hegte, konnte er gar nicht so genau spüren, wie er sie hätte spüren müssen, um sie zu schildern, und niederschreiben konnte er sie erst recht nicht. Er hatte mehrmals angesetzt, aber der Brief wollte ihm nicht gelingen, alles viel zu unbeholfen, das merkte er beim Durchlesen selbst. Und viel zu kurz war der Brief geraten, und er enthielt nur ein paar leere Allerweltsredensarten – kein Vergleich zu Viktors Brief, der an manchen Stellen geradezu strotzte vor Lebenslust – nein, so konnte er seinen Brief nicht abschicken. Vielleicht würde er es heute Abend noch einmal versuchen.
Hier unten am Rhein war er immer mit den beiden Alsatians entlanggezogen. Bei dem schmalen Weg hier musste man, wenn man einen Prügel zum Apportieren warf, gut aufpassen, damit er ja nicht auf die steile Böschung fiel und dann ins Wasser hinunterkullerte. Denn da kannten die Hunde nichts, selbst im strengen Winter sprangen sie ohne Zögern ins eiskalte Wasser, und er hatte danach bei Straussens die Scherereien. Eigentlich war er froh, dass er da nicht mehr hin brauchte, nur wegen der Hunde tat es ihm leid. Er musste plötzlich daran denken, dass sein Vater von jeher schon gern mal über die Juden geschimpft hat; er hatte ihm dann manchmal entgegengehalten, dass aber Straussens doch gewiss anständige Juden seien, doch sein Vater hatte dann gewöhnlich „Jud bleibt Jud“ gebrummt, und da hatte er wohl wirklich einmal recht. Höchstens Bienchen, meinte Ludwig, könnte vielleicht eine Ausnahme sein.
Heimwärts machte er dann noch einen großen Bogen durch die Stadt und kam viel zu spät zum Abendessen, was ihm einen schroffen Rüffel von seinem Vater eintrug. Schweigend, aber ohne Trotz im Gesicht, ging er in sein Zimmer. –
In den folgenden Monaten gab es immer wieder neue Zusammenstöße zwischen dem alten Herkommer und seinem Sohn, die nicht weiter erwähnenswert wären, wenn Ludwig dabei nicht von Mal zu Mal weniger beteiligt gewirkt hätte, was sicherlich mit ein Grund dafür war, dass der alte Herkommer, der ‚mehr Wirkung‘, wie er sagte, erwartete, von Mal zu Mal heftiger wurde. Aber anstatt ‚Wirkung zu zeigen‘, was ihm gewiss eine mildere Behandlung eingebracht hätte, ging Ludwig jedes Mal, wenn die Standpauke oder Schlimmeres beendet war, bemerkenswert unberührt und ungerührt mit gleichgültigem Gesicht in sein Zimmer, ohne das geringste Anzeichen von Reue oder wenigstens Einsicht, aber auch ohne jeden Anflug einer Verstocktheit oder gar von abschätzigem Hohn.
Er sprach in dieser Zeit kaum einmal mehr mit seiner Mutter und mit seinem Vater schon gar nicht. Jedenfalls würde er eines Tages abhauen, das war sicher. –
9_Alte Regimentskameraden
„Mein lieber Zabener“, begrüßte Dr. Strauss den Konsul herzlich, „das freut mich aber, dass es jetzt endlich geklappt hat mit uns beiden!“
„Wurde auch höchste Zeit, Strauss!“, sagte Zabener und schüttelte Dr. Strauss lange die Hand und klopfte ihm dabei mit der Linken auf die Schulter. Waren es alte Gepflogenheiten aus einer studentischen Korporation, waren es Überreste aus gemeinsamer Militärzeit, Zabener und Strauss duzten sich jedenfalls und redeten sich zugleich mit dem Familiennamen an.
Strauss hatte den Konsul zum Abendessen eingeladen und einen runden Tisch für zwei Personen decken lassen.
Es war noch hell, und so schlenderten sie erst noch ein wenig durch den Garten. Als sie dann am Tisch einander gegenüber Platz genommen hatten, saßen sie doch ziemlich weit entfernt voneinander, und Zabener gestand nach vorn gebeugt und, nachdem er mehrmals ‚bitte?‘, ‚bitte sehr?‘ und ‚wie bitte?‘ hatte zurückfragen müssen, ein, dass er in letzter Zeit eben doch gewisse Probleme mit den Ohren hätte.
„Nein, nein, nicht dass ich schlecht hörte, Strauss, im Gegenteil, ich höre sogar ausgezeichnet, ich verstehe nur nicht so gut, vor allem, wenn die Räume etwas hallig sind.“
Und ob es denn nicht vielleicht möglich sei, dass sie ein bisschen näher zusammenrückten, was zu bitten ihm allerdings fast peinlich sei, da der wirklich wunderschön gedeckte Tisch umgeräumt werden müsse. Strauss zögerte keinen Augenblick und ließ sein Gedeck mit den ganzen Gläsern, Schälchen und Extrabestecken näher an den Platz von Zabener heranrücken, für das geübte Personal eine Sache von Augenblicken, und schon saßen sie fast nebeneinander. Es war Strauss in letzter Zeit schon öfter aufgefallen, wie konzentriert ihn Zabener beim Zuhören ansah, und so achtete er jetzt genauer darauf, und tatsächlich, wenn er etwas sagte, blickte ihm Zabener sofort aufmerksam auf den Mund.
„Gut sehen kann ich schlecht“, scherzte der Konsul und putzte seine schwere Brille, „aber schlecht hören kann ich gut.“
„Vielleicht eine Kriegsfolge, Zabener?“
„Und ob! La Boiselle, Somme-Schlacht 1916. Ich habe tagelang fast überhaupt nichts mehr gehört!“
„Jetzt sind wir doch wieder beim Krieg gelandet!“, lachte Strauss, „wir haben uns doch geschworen, diesmal von was anderem zu reden.“
„Wenn das nur so leicht wäre, Strauss.“
„Wir sind doch alle vom Krieg verdorben und versaut bis ins letzte Glied! Erst das August-Erlebnis zu Kriegsbeginn – gewiss, es war trügerisch, aber als Erlebnis war es einzigartig, ich habe weder vorher noch nachher je eine derartige Begeisterung erlebt, die alle durchdrang, großartig – noch nie waren sich die Deutschen so einig! Und dann dieser Absturz – nein, nicht Absturz, Zabener, sondern diese Enttäuschung, die sich ganz allmählich, aber unaufhaltsam einschlich. August 1914, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Hoffnung hatte – eigentlich mehr als eine Hoffnung, ich war mir damals sogar ganz sicher –, dass das das Ende des Antisemitismus in Deutschland war.“
„Ich hatte da zwei jüdische Kameraden im Regiment“, erinnerte sich Zabener, „beide Zugführer und Leutnant der Reserve – der eine war ein merkwürdig blasierter Mensch, ich konnte so gar nicht mit ihm –, aber die beiden haben gekämpft wie die Löwen. Wann immer Freiwillige für eine heikle Aufgabe gebraucht wurden, die zwei waren zur Stelle.“
„Eben, Zabener! Die jüdischen Frontkämpfer, Kriegsfreiwillige fast durch die Bank, waren nicht nur Patrioten, sondern sie sahen in ihrem Fronteinsatz und ihrer Bewährung die große Chance für die Juden in Deutschland“, ereiferte sich Strauss. „Sie kämpften nicht nur für das Reich, Zabener, sondern auch für die Stellung der Juden in Deutschland. Ich war auch nicht frei davon.“
„Aber ich glaube, das war nur am Anfang des Krieges so. Die Enttäuschung blieb doch nicht aus.“
„Ja, sie kam schon bald. Und dann die Judenzählung Herbst 1916, da, Zabener, war alles endgültig vorbei.5 Als die 1918 den Bund der Frontsoldaten, diesen Stahlhelm, gründeten, blieben Juden ausgeschlossen. Frontkämpfer, Zabener, Frontkämpfer mit hohen Auszeichnungen! Ich hätte auch nicht die geringste Lust verspürt, mich denen anzuschließen. Da waren mir viel zu viele Scharfmacher und Säbelrassler dabei. Nur deshalb kam es ja dann zu unserem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Und die waren die eigentlichen Kämpfer für die Weimarer Republik!“, rief Strauss, aber dann schwieg er bekümmert, und das Feuer erlosch.
Als Zabener sah, wie verzweifelt Strauss dreinschaute, versuchte er, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken und nutzte die kurze Pause, die durch Straussens Schweigen entstanden war, um sich nach der Familie zu erkundigen.
„Was macht Sabine?“
„Oh, Bienchen geht es gut“, antwortete Strauss, und seine Stimme wirkte wie erleichtert, als ob er dankbar wäre für das neue Terrain ihres Gesprächs. „Sie macht auf der Violine große Fortschritte. Auch in der Schule – alles in Ordnung. Sie ist natürlich viel