Im Bauch des Wals. Annemarie Bauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annemarie Bauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940112866
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      Kein Zweifel kann hingegen daran bestehen, dass Männer und Frauen in ihren sexuellen Funktionen sehr unterschiedlich sind. Die bisher gültigste Konzeption der Geschlechtsunterschiede basiert auf der seelischen Verarbeitung dieser Situation.

      Das männliche Kind beobachtet an der Schwelle zu seiner geistigen Verselbstständigung, dass es anders ist als die Mutter und dass es nie so werden wird wie sie. Es entdeckt, dass es die Mutter nicht kontrollieren und nicht befriedigen kann; wenn die Mutter unglücklich ist, braucht sie einen Mann, keinen Knaben; wenn sie die Illusion aufbaut, sie könne auch ohne Mann dem Knaben alles geben, was er braucht, verführt sie den Sohn zur Größenfantasie, die er später nur schwer wird ablegen können.

       Der Naturmensch als Konzept einer fortgeschrittenen Kultur

      Der Gedanke, dass es möglich sei, den Menschen der Kultur gegenüberzustellen, ist ein Kind der Aufklärung. Erst als die menschliche Vernunft sich sozusagen selbst entdeckte, gelang es ihr auch, von einer Tradition Abschied zu nehmen, in der ein „guter“ Mensch der ist, der den Normen der Kultur folgt. Zuvor gab es keine Möglichkeit, die Normen der Kultur infrage zu stellen; sie verstanden sich von selbst.

      Die Entwicklung einer autonomen Vernunft hängt mit der Naturwissenschaft zusammen; eine ihrer Schlüsselsituationen ist der Prozess von Galilei: Darf ein Forscher behaupten, was der herrschenden Kultur widerspricht, weil er vernünftige Beweise dafür hat?

      Nach anfänglichen Niederlagen hat die Wissenschaft hier den Sieg davongetragen – keineswegs endgültig, denn in vielen einst aufgeklärten Staaten sind inzwischen Fundamentalisten auf dem Vormarsch, die beispielsweise die Evolutionstheorie am liebsten verbieten oder so umformen wollen, dass nur ihre Feinde vom Affen abstammen, sie selbst jedoch von Gott geschaffen wurden.

      Die wissenschaftliche Betrachtung erfasst nur eine Wechselwirkung von Kultur und Mensch. Sie stellt Fragen, die in eine ganz andere Richtung gehen als die der klassischen Religionen. Freud sucht in einigen seiner kulturtheoretischen Arbeiten nicht mehr nach einer Antwort auf die Frage, wie der gute Mensch beschaffen sei, sondern ob die Kulturforderungen selbst nicht dafür verantwortlich sind, dass so viele Menschen sich schlecht fühlen und unter Umständen auch schlecht handeln.

      Die formende Kraft der Zweierbeziehung wird hier ganz neu gesehen: Ihr Auftrag ist es, dem Kind die ersten Ansätze der Kultur nahezubringen; im späteren Leben bildet sie den wichtigsten Kitt, um unterschiedliche Kulturen zu verbinden und aus ihnen etwas Neues zu schaffen. In der mobilen Gesellschaft gibt es viele Konfliktpotenziale, die daher rühren, dass Männer und Frauen mit ganz unterschiedlichem familiären Hintergrund versuchen, zusammenzukommen und zusammenzubleiben. Aber wo diese Konflikte überwunden werden, entsteht auch das spezifisch moderne, weltoffene, aufgeschlossene Bewusstsein, das Toleranz nicht nur predigt, solange es zu schwach ist, das eigene Glaubensmonopol durchzusetzen.

       Die ältesten Institutionen

      Eine fremde Kultur ist anders. Das steht schon in den ersten Berichten, die es überhaupt gibt, etwa in den Historien des Herodot, eines jonischen Griechen, der im vierten Jahrhundert vor Christus reiste. Er erzählt eine lehrreiche Geschichte, die man als Urszene des Kulturvergleichs ansehen kann.

      Der persische Großkönig wollte herausfinden, ob es ein „richtiges“ menschliches Verhalten für den Umgang mit Verstorbenen gibt. Er ließ deshalb Vertreter zweier Völker seines Riesenreiches vor sich treten – die Griechen, welche ihre Toten verbrennen, und einen asiatischen Stamm, bei dem es Sitte war, die Verstorbenen zu essen.

      Die Stammesangehörigen fanden es abscheulich, verehrungswürdige Tote zu verbrennen; die Griechen schauderten bei dem Gedanken, ihre Toten zu verspeisen. Das Ergebnis der Beratung war also, dass jedes Volk die eigenen Sitten für die besten hält, sie idealisiert, während es sich über fremde Sitten erhebt bzw. sie ablehnt.

      Was Herodot „Sitten“ nennt, hat viele Namen: Bräuche, Rituale, Benimmregeln, soziale Normen. Der präziseste Begriff dafür ist Institutionen. Abgeleitet von dem lateinischen Wort für einrichten, erfasst dieser Begriff alle Gebilde, die zwischen dem biologischen Organismus und seiner sozialen Umwelt seit alters her vorhanden oder eben im Entstehen begriffen sind. Solche Institutionen sind ebenso universell wie oft schwer wahrnehmbar, weil wir nur ausnahmsweise nicht in ihnen handeln, sondern über sie nachdenken.

      Institutionen begleiten uns von der Geburt bis nach unserem Tod, denn sie legen fest, wie wir begraben werden, welcher Stein mit welcher Inschrift auf unserem Grab steht und wie der Toten gedacht wird. Sie unterscheiden zwischen arm und reich, zwischen sozial angesehen und sozial geächtet – und sie verändern sich, langsam in traditionellen Gesellschaften, rasch in der Moderne.

      Einige der wichtigsten Institutionen sind die unterschiedlichen Rollen, welche den Geschlechtern und den Altersklassen zugeschrieben werden. Rolle war ursprünglich der auf gerolltem Papier geschriebene Text, den ein Schauspieler vor seinem Auftritt wissen musste. In der Soziologie dient dieser Begriff dazu, soziales Verhalten ähnlich den Vorschriften zu erfassen, die der Theaterdichter für seine Spieler geschaffen hat.

      In den ältesten Kulturen, die wir kennen, sind die Rollen flüchtig und stark biologisch orientiert: Männer und Frauen, Kinder und Alte verhalten sich in unterschiedlichen Rollen. Aber es gibt z. B. keine festen Berufsrollen und keine strikt rollenspezifische Arbeitsteilung. Bei den Buschmännern, einem Jägervolk der Kalahari, sind z. B. alle Männer und Frauen auch potenziell Schamanen, sie können sich oder andere in einem Tranceritual von Krankheiten heilen. Zwar ist das Sammeln eher Frauen-, das Jagen eher Männerarbeit, aber diese Rollenteilung ist längst nicht so strikt wie die ausgefeilten Arbeitsteilungen mancher agrarischen Kulturen, in denen es für Männer verboten ist, „weibliche“ Werkzeuge auch nur zu berühren (oft mit dem Argument, sie würden dann impotent werden). Wenn Frauen auf ihren Streifzügen ein Beutetier treffen, das sie erlegen können, tun sie das; wenn Männer keine Beute finden, sammeln sie Früchte, Wurzeln oder wilden Honig.

       Altsteinzeitliche Kulturen

      Die altsteinzeitlichen Kulturen der Jäger und Sammler (wie die der oben erwähnten Buschmänner) haben manche „modernen“ Qualitäten: demokratische Herrschaftsprinzipien, Konfliktlösungen nicht mit Gewalt, sondern durch räumliche Trennung, Kindererziehung ohne Prügel (vgl. Lee & De Vore 1969, Schmidbauer 1973). Das liegt daran, dass die Paläolithiker es sich leisten konnten, kindliches und triebhaftes Verhalten lebenslang zu tolerieren. Es war überflüssig, Institutionen zu entwickeln, welche eine innere Disziplin und Leistungsorientierung aufbauen. Die Natur war hart genug gegen jeden Faulen und Nachlässigen.

      Ein ausgewogenes Verhältnis zur Leistung und sozialen Ordnung war durch die Lebensumstände gegeben. Aufeinander abgestimmt, erzwangen die eigenen Bedürfnisse und die begrenzten Ressourcen einen zyklischen Wechsel von Ruhe und Anstrengung. In den traditionalistischen, agrarischen Gesellschaften, in denen es schon Vorräte an Nahrung gibt und das Saatgut aufgespart werden muss, dürfen die Menschen nicht so kindlich bleiben. Sie müssen eine innere Hemmung entwickeln, um nicht das zu tun, was auf der steinzeitlichen Kulturstufe selbstverständlich ist: zu essen, was da ist, und dann weiterzusehen. Ein Bauer würde dadurch sein Saatgut, ein Hirte seine Herde gefährden.

      „Das Ohr des Schülers sitzt auf seinem Rücken. Er hört nur, wenn man ihn schlägt“, lautet ein altägyptischer Text. „Zerschlage seine Rippen, solange er noch klein ist“, heißt die verwandte Botschaft der Bibel (im Buch Jesus Sirach). Äußere Drohungen sind notwendig, um eine nicht mehr durch die eigenen Bedürfnisse, sondern durch agrarisch-feudale Zwänge motivierte Arbeitsleistung zu erbringen. Der Jäger und Sammler muss keine inneren Konsumbarrieren haben, weil er auch kein Saatgetreide hat, das er nicht aufessen darf. Deshalb ließen sich Jäger und Sammler auch so selten als Plantagenarbeiter verwenden. Sie starben unter den Arbeitszwängen oder ergriffen die Flucht in den Busch. An ihrer Stelle wurden die bereits agrarisch