Jedes Glied in einer hierarchischen Kette kann in zwei Richtungen versagen: durch Anbiederung und durch Machtmissbrauch. Häufig treten beide Entgleisungen, die doch eigentlich unterschiedlich gerichtet erscheinen, tatsächlich bei denselben Personen auf. Ein Chef, der mit seiner Truppe Brüderschaft trinkt und sexuelle Verhältnisse pflegt, ist oft auch der, der seine Macht missbraucht, um Fehler zu vertuschen oder Privilegien einzuheimsen, die der Organisation schaden, die ihn eingesetzt hat.
In beiden Fällen ist aber nicht allein der Funktionsträger verantwortlich. Auch seine Vorgesetzten und seine Untergebenen haben versagt, haben sich zu Komplizen machen lassen, ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Wenn sich ein hierarchisches System als korrupt erweist, ist es sinnlos, die Akteure auf den niedrigen Rangstufen allein anzuklagen. Das Sprichwort „Der Fisch stinkt vom Kopf her“ bringt das auf eine anschauliche Formel.
Die übersprungene Stufe
In allen Hierarchien entwickeln sich informelle Strukturen, die die gültige Rangordnung konterkarieren. Ein typisches Phänomen sind die geheimen Bündnisse zwischen Befehlsebenen, die keinen unmittelbaren Kontakt haben. In einer Heeresdivision, die von einem General geleitet wird, gibt es mehrere Regimenter, die von Obersten kommandiert werden; diese haben ihre Hauptmänner unter sich, welche eine Kompanie befehligen und Unteroffiziere führen, die über den einfachen Soldaten stehen. An sich sollte keine Hierarchieebene eine Stufe überspringen, d. h. der General kommuniziert nicht mit den Hauptleuten, sondern mit deren Obersten. Wenn ein Hauptmann eine Beschwerde hat, muss er zu seinem Oberst gehen. Vielfach sind solche „Dienstwege“ genau geregelt, sodass es untersagt ist, eine Stufe zu überspringen, sich z. B. als Unteroffizier ohne Wissen des Hauptmanns gleich beim Oberst zu beschweren.
Gegen diese Vorschriften wirkt aber eine informelle Dynamik, die darauf beruht, dass die „nahen“ Stufen immer in einem stärkeren Spannungsverhältnis stehen als die „entfernten“, weil sie weit mehr Grund haben, zu rivalisieren. Der Oberst wird von seinen fähigen Hauptleuten am ehesten kritisiert; der alternde General muss fürchten, dass einer seiner ehrgeizigen Obersten scharf auf seinen Rang ist. In dieser Situation ist es ihm nicht unangenehm, von einem der Hauptmänner seines Rivalen zu erfahren, dass dieser Oberst bei der Truppe nicht beliebt ist.
Jede Hierarchiestufe wird von den ihr nächsten Stufen am meisten bedrückt und fühlt sich im Kontakt mit der übersprungenen Stufe entspannter. Mit dieser Stufe sind freilich nur informelle Bündnisse möglich; die Kontakte müssen oft verschleiert werden.
Vorteile und Schattenseiten der Hierarchie
Die Hierarchie ist wie das Rückgrat: Wir wissen, dass wir darauf nicht verzichten können, aber es schränkt unsere Bewegungsmöglichkeiten ein und kann zu erheblichen Schmerzen und Behinderungen führen. Hierarchien sind schwerfällig, sie entwickeln sich nur sehr langsam und vergeuden auf ihren „Dienstwegen“ viel Energie.
Ein sehr wesentlicher Schritt in der Entwicklung einer Hierarchie ist der zum Gesetz, zur Verfassung, zu einem für alle – auch für den Mann oder die Frau an der Spitze – verbindlichen Regelwerk. Historisch wird er durch den Schritt von der absoluten Monarchie zur konstitutionellen Herrschaft und später zum demokratisch legitimierten Staat markiert.
Damit verwandelt sich die absolute Autorität in eine gesetzlich legitimierte, wird jeder Vorgesetzte im Prinzip überprüfbar, hat jeder Mitarbeiter jederzeit die Möglichkeit, das Gesetz gegen tyrannische Willkür oder einen Amtsmissbrauch anzurufen. Durch die Möglichkeiten, Entscheidungen im Konfliktfall einer nächsthöheren Instanz vorzulegen, wird die Hierarchie zu einem wichtigen Organ des Rechtsstaates.
In den europäisch beeinflussten Zivilisationen, die in einer globalisierten Welt die meisten Staaten beeinflussen, lässt sich der militärische Ursprung hierarchischer Strukturen noch an vielen Orten erkennen. Seine wichtigste Quelle ist wohl das römische Heer. Entsprechende (oft verleugnete) militärische Qualitäten findet man bei genauer Betrachtung auch in vielen Organisationen, die sich selbst andere Formen zuschreiben, beispielsweise die staatlichen Verwaltungen, die Krankenhäuser, die Kirchen, die Versicherungen und Banken.
Der Ursprung des Wortes Hierarchie verrät viel über die zwangsläufig mit dieser Institution verknüpften Probleme. Hieros heißt im Griechischen heilig, archein herrschen: Die Hierarchie ist eine sakrale, nicht hinterfragbare Machtleiter. Daher passt sie nicht unverändert in eine moderne Gesellschaft, in der nicht mehr das Dogma, sondern der rationale Diskurs und das Forschungsergebnis die Entwicklung bestimmen.
Zur klassischen Hierarchie gehört die Identität von Dienst- und Fachaufsicht. Der Soldat beginnt als Rekrut; bewährt er sich, trägt er – wie es im absolutistischen Frankreich hieß – den Marschallstab im Tornister, kann er bis in das höchste Kommando aufsteigen. Also versteht er auch, einmal Marschall geworden, das Kriegshandwerk durch und durch, er weiß, was er befiehlt, er bewegt sich nur in einer Welt von Soldaten.
Aber in einer wissenschaftlich und technisch bestimmten Welt ist das nicht mehr möglich. In ihr gibt es Experten, und sie wären keine Experten, wenn sie nicht mehr wüssten als die Nicht-Experten. Wenn nun ein Nichtfachmann Dienstvorgesetzter eines Fachmanns ist, kann er nicht mehr unbeschränkt kommandieren. Er muss sich, wo das Fachwissen seine Einsicht übersteigt, dem Experten fügen, nicht umgekehrt, sonst wird die Organisation Schaden leiden.
Viel von der Unübersichtlichkeit, die oft und zurecht in der modernen Welt beklagt wird, rührt aus diesem Problem. Das weiß jeder, der einerseits – weil er zahlt – die Macht über einen Experten hat, andrerseits aber – weil er weniger weiß als dieser – dem Experten ausgeliefert ist. Hier wird auch verständlich, dass Teamwork, vernetztes Denken, offene Kommunikation keine Schlagworte sind, sondern notwendige Veränderungen, die mit dem Auseinandergehen von Macht und Wissen zu tun haben. Wo offen kommuniziert wird und verschiedene Fachleute ihr Wissen optimal einbringen können, werden die besten Entscheidungen getroffen, werden Fehler vermieden, wird Energie optimal genützt. Solange ein Vorgesetzter alle Macht und Geltung beansprucht, kann das nicht geschehen.
In unseren heutigen, rechtsstaatlich funktionierenden Einrichtungen gibt es keine absolute Macht mehr. Führungskräfte sind den Zielen der Organisation verpflichtet und den Gesetzen unterworfen. An sich sollte der einfache Mitarbeiter, der einen wichtigen Verbesserungsvorschlag entdeckt, ebensoviel Einfluss haben wie das Direktorium, weil die meiste Macht dem gehört, der die Ziele der Organisation am besten vertritt.
Autoritäre Strukturen veralten
In Fortbildungen für Führungskräfte wird heute betont, dass es die zentrale Leitungsaufgabe ist, Mitarbeiter zu motivieren, mit ihnen zu kommunizieren, ihre Anregungen zu beachten. Das ist nicht modisch, sondern logisch. Heute aber arbeiten die meisten größeren Organisationen auf einem so hohen Niveau der spezialisierten Arbeitsteilung, dass die Führung nur dann alle Kompetenzmöglichkeiten erschließt (und so die Wettbewerbsfähigkeit sichert), wenn sie die unterschiedlichen Spezialisten optimal einbindet.
Das bedeutet, dass an sich jeder Mitarbeiter, der eine gute Idee hat, auch den Anspruch äußern kann, dass sie umgesetzt wird. Wenn seine Vorgesetzten nicht mitspielen, kann er sich beschweren: sie wollen nicht tun, wofür sie (meist gut) bezahlt werden.
Moderne Professionalität fordert Führung; sie entzieht sich ihr nicht. Wer leitet, wird von einem professionell denkenden Mitarbeiter in Anspruch genommen. Er soll etwas für ihn tun, er soll ihn fördern, ihm zuhören, seine Verbesserungsvorschläge umsetzen helfen. Umgekehrt wird der Vorgesetzte respektiert und der Dialog mit ihm gesucht; es ist nicht so