»Sie haben nun genug Geist entwickelt,« pflegte Fräulein Thuillier nach solchen lichtvollen Aussprüchen zu sagen: »Der Tisch ist hergerichtet, machen Sie Ihre kleine Partie.« Die alte Jungfer beendete immer die Diskussionen, bei denen sich die Damen langweilten, mit einem solchen Vorschlage.
Wären diese früheren Vorgänge und all diese allgemeinen Bemerkungen nicht in der Form von Schlussfolgerungen vorgebracht worden, um den Rahmen für diese Erzählung zu bilden und einen Begriff vom Geiste dieser Gesellschaft zu geben, so würde die dramatische Entwicklung darunter gelitten haben. Im übrigen ist diese Skizze historisch treu und schildert eine gesellschaftliche Schicht von gewisser sozialer Bedeutung, besonders wenn man bedenkt, dass die politischen Maximen der jüngeren Linie der Königsfamilie sich auf sie gestützt haben.
Der Winter des Jahres 1839 war sozusagen die Zeitspanne, in der der Salon der Thuilliers seinen höchsten Glanz erreichte. Die Minards erschienen fast alle Sonntage und pflegten, auch wenn sie anderswo eingeladen waren, eine Stunde hier zu verbringen, und oft ließ Minard, wenn er mit seiner Tochter und seinem älteren Sohne, dem Advokaten, fortging, seine Frau zurück. Diese Beharrlichkeit Minards fand ihre Erklärung in einer, allerdings ziemlich späten Unterredung mit den Herren Métivier und Barbet, die eines Abends stattfand, als diese beiden wichtigen Mieter etwas länger als gewöhnlich dablieben und mit Fräulein Thuillier sprachen. Minard erfuhr von Barbet, dass die alte Jungfer ihm etwa dreißigtausend Franken gegen Sechsmonatswechsel zu siebeneinhalb Prozent jährlich lieh und Métivier den gleichen Betrag, so dass sie wenigstens über hundertachtzigtausend Franken verfügen müsste.
»Ich nehme für Darlehen im Buchhandel zwölf Prozent, und gebe sie nur gegen sichere Unterlagen. Ich kann es also gar nicht bequemer haben,« schloss Barbet. »Ich behaupte, dass sie hundertachtzigtausend Franken besitzen muss, denn die Bank nimmt nur Dreimonatsakzepte.«
»Sie hat also ein Konto bei der Bank?« sagte Minard.
»Ich glaube es«, erwiderte Barbet.
Da er Beziehungen zu einem Verwaltungsrat der Bank hatte, erfuhr Minard, dass Fräulein Thuillier in der Tat dort ein Konto in Höhe von etwa zweihunderttausend Franken besaß, für das als Unterlage vierzig Aktien deponiert waren. Diese Unterlage war übrigens, wie es hieß, überflüssig; die Bank hatte alles Entgegenkommen gegen eine Persönlichkeit, die ihr bekannt war und das Vermögen Celeste Lempruns verwaltete, der Tochter eines Angestellten, der ebensoviel Dienstjahre zählte, wie die Bank Jahre ihres Bestehens.
Im übrigen hatte Fräulein Thuillier im Verlaufe von zwanzig Jahren niemals ihren Kredit überschritten. Sie diskontierte allmonatlich Dreimonatswechsel über sechzigtausend Franken, was ungefähr hundertsechzigtausend Franken ausmachte. Da die deponierten Aktien einen Wert von hundertzwanzigtausend Franken hatten, so lief man gar kein Risiko, denn die Wechsel waren jedenfalls sechzigtausend Franken wert.
»Würde sie«, sagte der Bankkommissar, »im dritten Monat uns auch Wechsel über hunderttausend Franken bringen, wir würden nicht einen einzigen zurückweisen. Sie besitzt ein unbelastetes Haus, das mehr als hunderttausend Franken wert ist. Und schließlich sind alle diese Wechsel von Barbet und Métivier ausgestellt und tragen vier Unterschriften, die ihrige inbegriffen.«
»Weshalb macht Fräulein Thuillier noch solche Geschäfte?« fragte Minard Metivier. »Aber das wäre doch etwas für Sie«, fügte er hinzu.
»Oh, was mich anlangt,« erwiderte Metivier, »ich tue besser, wenn ich eine von meinen Kusinen heirate; mein Onkel Métivier hat mir seine Geschäfte übertragen; er hat hunderttausend Franken Einkommen und nur zwei Töchter.«
So heimlich Fräulein Thuillier, die niemandem, nicht einmal ihrem Bruder, etwas von solchen Geldanlagen mitteilte, auch vorging, und obwohl in diesen Summen auch die Ersparnisse aus dem Einkommen der Frau Thuillier mit den ihrigen zusammen enthalten waren, so ließ es sich doch schwer verhüten, dass nicht ein Strahl des Lichtes unter dem Scheffel, der ihren Schatz bedeckte, hervordrang.
Dutocq, der bei Barbet verkehrte, dem er im Charakter und im Aussehen vielfach ähnelte, hatte, zutreffender als Minard, die Ersparnisse der Thuilliers im Jahre 1838 auf hundertfünfzigtausend Franken geschätzt und konnte im geheimen ihr weiteres Anwachsen verfolgen, wenn er die Gewinne berechnete, die sie mit Hilfe des schlauen Geldverleihers Barbet machten.
»Celeste bekommt von uns zweihunderttausend Franken bar,« hatte die alte Jungfer Barbet vertraulich mitgeteilt, »und Frau Thuillier will ihr kontraktlich ihr Vermögen verschreiben und sich nur die Nutznießung vorbehalten. Was mich betrifft, so ist mein Testament gemacht. Mein Bruder behält alles, solange er lebt, und Celeste ist meine Erbin. Herr Cardot, mein Notar, ist mein Testamentsvollstrecker.«
Inzwischen hatte Fräulein Thuillier ihren Bruder veranlasst, seine alten Beziehungen zu den Saillards, den Baudoyers und den Falleix wieder aufzunehmen, die im Viertel Saint-Antoine, wo Saillard Bürgermeister war, eine den Thuilliers und Minards entsprechende Stellung einnahmen. Der Notar Cardot hatte seinerseits ihnen einen Bewerber in der Person des Advokaten Godeschal, Dervilles Nachfolger, präsentiert, eines tüchtigen Mannes von sechsunddreißig Jahren, der beim Ankauf seiner Stelle hunderttausend Franken angezahlt hatte, und den Rest mit den zweihunderttausend Franken der Mitgift würde begleichen können. Aber Minard bewirkte, dass Godeschal abgelehnt wurde, nachdem er Fräulein Thuillier mitgeteilt hatte, dass Celeste dann zur Schwägerin die berühmte Marietta von der Oper bekommen würde.
»Sie kommt ja von dort her,« sagte Colleville mit einer Anspielung auf seine Frau, »und sie will doch nicht wieder dorthin zurückkehren.«
»Außerdem ist Herr Godeschal zu alt für Celeste«, sagte Brigitte.
»Und dann,« fügte Frau Thuillier schüchtern hinzu, »soll man sie nicht nach ihrem Geschmack wählen lassen, damit sie glücklich wird?«
Die arme Frau hatte gemerkt, dass Felix Phellion Celeste wahrhaft liebte, mit einer Liebe, wie sie eine Frau, die von Brigitte unterdrückt und durch die Gleichgültigkeit Thuilliers, der sich um seine Frau weniger als um ein Dienstmädchen kümmerte, verletzt war, sich erträumte: innerlich voll Mut, schüchtern nach außen hin, selbstsicher und doch furchtsam, vor allen andern zurückhaltend und in allen Himmeln schwelgend. Dreiundzwanzig Jahre alt, war Felix Phellion ein sanfter, harmloser junger Mann, wie die Gelehrten sind, die sich der Wissenschaft um der Wissenschaft willen hingeben. Er war sorgfältig von seinem Vater erzogen worden, der alles ernst nahm und ihm stets ein gutes Vorbild gewesen war, wenn er ihm auch triviale Lehren gab. Er war ein junger mittelgroßer Mann mit hellbraunem Haar, grauen Augen und einem Gesicht voller Sommersprossen; er hatte eine sehr angenehme Stimme, eine ruhige Haltung, bewegte sich wenig, war träumerisch, machte nur sinnvolle Bemerkungen, widersprach niemandem und war vor allem jedes schmutzigen Gedankens und jeder egoistischen Berechnung bar.
»Solch einen Mann hätte ich mir gewünscht!« sagte sich Frau Thuillier oft.
Zu Anfang des Jahres 1840, im Februar, waren im Salon bei den Thuilliers mehrere der eben geschilderten Personen anwesend. Es war gegen Ende des Monats. Barbet und Métivier, die jeder dreißigtausend Franken von Fräulein Brigitte bekommen hatten, spielten mit Minard und Phellion Whist. An einem andern Tisch spielten Julian, der Advokat, welchen Spitznamen Colleville dem jungen Minard gegeben hatte, Frau Colleville, Herr Barniol und Frau Phellion. Eine Bouillotte, den Point zu fünf Sous, machten Frau Minard, die kein anderes Spiel verstand, Colleville, der alte Vater Saillard und sein Schwiegersohn Bandoze. Laudigeois und Dutocq waren Ersatzmänner; die Damen Falleix, Baudoyer, Barniol und Fräulein Minard spielten Boston, und Celeste saß neben Prudence Minard. Der junge Phellion unterhielt sich mit Frau Thuillier und sah Celeste an.
Am Kamin thronte auf einem Sofa die Königin Elisabeth der Familie, ebenso einfach wie seit dreißig Jahren gekleidet, denn kein Reichtum hätte sie ihren Gewohnheiten untreu machen können. Auf ihren chinchillafarbenen Haaren saß eine Haube aus schwarzer Gaze mit Charles X.-Geranien garniert; ihr Kleid aus schleierartigem korinthenfarbigem Stoff hatte fünfzehn Franken gekostet; ihre gestickte Halskrause für sechs Franken verhüllte nur mangelhaft den tiefen Einschnitt,