«Deshalb Posaune», setzt mir Philippa auseinander, «weil die in der Stadtmusik von Langenthal so tolle Uniformen haben. Sowas möchte Reto auch einmal tragen.»
Diese Sehnsucht kommt mir bekannt vor. In Bad Leonfelden, dem österreichischen Ort, wo ich Geige unterrichte, gibt es auch junge Burschen, die drei Wochen nach ihrer ersten Klarinettenstunde zum Schneider stürmen und sich eine Blasmusik-Uniform anmessen lassen.
«Keine Sorge», sage ich zu Philippa, «mich freut es immer, wenn Menschen Musik machen.»
Für mich behalte ich die Überlegung, dass ein dürres zehnjähriges Bürschchen wohl nicht stundenlang auf einem Instrument üben wird, das wie eine vergoldete Panzerfaust aussieht und auch ein ähnliches Gewicht hat. Philippa erzählt von den Stipendiaten, die meine Vorgänger waren. Mit keinem gab es gröbere Probleme. Die meisten waren ja auch schon über die Lebensmitte hinaus.
«Vierzig aufwärts.»
Philippa sagt das so schwungvoll, als stünden wir beide im vierzigsten Stock eines Hochhauses. Sie hat noch Kontakt mit den tieferen Etagen, aber ich habe keine Wahl. Demnächst erreiche ich das fünfzigste Stockwerk. Eine schwindelerregende Höhe. Vita brevis denke ich einmal mehr. Du musst schreiben, bis sich deine Tinte in Blut verwandelt.
Mit Sophie, der Stipendiatin, die drei Jahre vor mir da war, fährt Philippa fort, seien sie sogar jetzt noch befreundet.
«Kann diese Kollegin vom Schreiben leben?», frage ich.
Philippa stutzt. Zum ersten Mal in unserem Gespräch bemerke ich eine Spur von Unsicherheit an ihr.
«Das weiß ich nicht», sagt sie zögernd. «Das hab ich sie noch nie gefragt. In der Schweiz wird nicht über Geld geredet.»
Schau Tal
Ich war noch nie im Yoga. Aber seit einiger Zeit spüre ich eine emotionale Ablösung von Turnvater Jahn, die einhergeht mit einer sanften Hinwendung zu Dehnmutter Yoga. Ihr traue ich es theoretisch zu, mir praktisch dabei zu helfen, die unvermeidliche Verkarstung meiner Körperlandschaften wenigstens hinauszuzögern.
Wie wird das werden, frage ich mich, während ich grüezisagend durch das dreistöckige Stiegenhaus des Langenthaler Sportstudios zur Rezeption hinaufsteige. Gibt es eine spezielle Schweizer Yogarichtung, bei der Österreicher von Haus aus nicht mitkommen können? Werde ich mich durch meine bereits etwas eingeschränkte Beweglichkeit blamieren? Und wie wird dieser Alain sein, der Trainer, von dem ich dank eines Prospekts zumindest den Namen kenne? Und wer sind die anderen Teilnehmer? Wie werden sie auf meine handgestrickten Socken reagieren? Werde ich überhaupt richtig angezogen sein? Oder werde ich durch mein eher simples und gröberes Trainingsoutfit allen gleich klarmachen, dass hier ein alternder Elefantenbulle versucht, sich in eine Herde graziler Gazellen einzuschmuggeln?
Die Yogastunde beginnt mit dem Einchecken an einem eleganten, mondsichelförmigen Zehnmeter-Tisch. Dieses Möbelstück ist so staub-, flusen-, und fettfleckenfrei, dass hier auch Fernsehmoderatoren Platz nehmen und die Nachrichten verkünden könnten. Im Saal ringsum trainieren Menschen aller Altersstufen an chromblitzenden Geräten. Gröberes Geächze ist nicht zu hören. Das wundert mich. In Österreich, wo ich in meiner Jugend eine kurze Ich-werde-Conan-Phase durchgemacht habe und deshalb auch ein Weilchen meine Prahlmuskel-Gruppen trainierte, wurde im Fitnessclub immer geächzt. Ein Fitness-Studio ohne Ächzer ist wie ein Baum ohne Vogelgezwitscher, irgendwie unheimlich.
«Guten Morgen», sage ich akzentfrei.
«Zum ersten Mal hier?», fragt die Rezeptionistin zurück, ohne mir einen persönlichen Artikel zuzuordnen. Sie kann sich nicht mehr an meinen ersten Besuch erinnern. Ich habe keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Damals haben wir uns gleich geduzt, weil ich mimisch erfolgreich versucht hatte, einen durchschnittlichen Schweizer Mann darzustellen, der sich nach der Arbeit noch einen Aufguss gönnt. Aber jetzt ist sie von der exotischen Sprache Österreichisch derart irritiert, dass sie das joviale Club-Du zumindest am Anfang unserer Begegnung aussetzt.
«Nein», sage ich frohgemut, «ich war hier schon einmal in der Sauna und kenne den Hausbrauch ein wenig. Aber ich weiß nicht, wo das Yoga stattfindet.»
«Ach so», sagt sie, «also, das ist da die Treppe runter in einem der Säle. Abrechnen können wir auch später.»
«Ich zahle lieber jetzt gleich», sage ich und erledige das Monetäre. Dann schwinge ich mich in die Umkleidekabine für Männer. Dort geht alles glatt. Ich finde sogar ein Kästchen mit der Ziffer meines Geburtsjahrs. Ein gutes Omen und gleichzeitig eine eminente Gedankenstütze.
Auf der Betontreppe begegnen mir immer wieder Schweißgebadete. Im Erdgeschoß bleibe ich vor einem großen Turnsaalfenster stehen und tue so, als müsste ich mich orientieren. In Wahrheit beobachte ich die Frauen hinter dem Glas. Sie haben sich in hautenge Dressen gequetscht und boxen so heftig gegen einen imaginären Gegner, dass mir plötzlich die Luft leidtut. Sie macht ohnehin genug mit, mit dem Feinstaub und all dem Lärm und dem Zuviel an Licht, das sie transportieren muss. Als ob das nicht genug wäre, wird sie hier auch noch mit sogenannter Musik bedröhnt und hemmungslos geschlagen. Trotzdem erwidert sie nichts, keinen Mucks und keinen Hauch. Man sollte die Luft auf der Liste der geduldigsten Phänomene weit nach vorne reihen, bis in die Nähe der Erde, die es auch noch erstaunlich gleichmütig über sich ergehen lässt, dass sie ständig zubetoniert, aufgehackt und angebohrt wird.
«Du bist der Neue», vernehme ich hinter mir eine männliche Stimme, die mehr feststellt als fragt. Und weil es außer mir nicht allzu viele Neue geben dürfte, drehe ich mich um, bejahe die Feststellung und erweitere sie sogar um eine Frage.
«Wer hat dir das verraten?»
«Die von der Rezeption haben mich angerufen … und vorgewarnt.»
«Das war gut und richtig», bestätige ich, «immerhin komme ich direkt aus Österreich und wollte fragen, ob ich bei euch mitmachen kann?»
«Nein», sagt der große, schlanke Mann, der einen kleinen, schwarzen Zopf trägt und sich auf mich zubewegt, so weich wie eine Schnecke auf einem Pudding, «also Österreicher, tut mir wirklich leid, aber die nehmen wir nicht. Ich meine, wir sind hier wirklich tolerant, aber alles hat seine Grenzen.»
«Das verstehe ich total. Ich muss auch gleich dazu sagen», schränke ich ein, «dass ich genaugenommen gar kein richtiger Österreicher bin. Eigentlich bin ich ein Mühlviertler mit einer aktuellen Nebenverwendung als Langenthaler.»
«Na, dann ist es ja gut», sagt Alain, reicht mir zuerst seine Hand und gleich danach eine Fitnessmatte, mit der ich sofort in den Gymnastiksaal strebe.
«Verstehst du Schweizer Deutsch?», ruft er mir noch nach, während ich scheu durch eine ungefähr siebenköpfige Gruppe von Frauen stelze, die bereits auf ihren Gummi-Matten liegen.
«Jedes zehnte Wort», rufe ich zurück, «aber den Rest kann ich mir in groben Zügen zusammenreimen.»
Ich beziehe meine Ecke und richte mich ein. Matte ausrollen, hinsetzen und die indirekt aus den Spiegeln auf meine Socken fallenden Blicke mit der brüchigen Widerständigkeit des Zuzüglings quittieren. Ja, gute Leute, so ist das bei uns auf der anderen Seite der Alpen, sagt mein devoter Nacken. Wir Männer stricken dort unsere Socken selber nach alten, traditionsreichen Ringelmustern, die vom Vater an den Sohn weitergegeben werden. Meine Frau hat natürlich wieder einmal recht gehabt, als sie meinte, dass diese Socken etwas Kasperlartiges haben. Aber, was soll ich jetzt noch machen?
Nach und nach strömen weitere Frauen in die Halle, insgesamt ungefähr fünfzehn Reckinnen, die alle das gebärfähige Alter schon etwas hinter sich haben. Wie zu erwarten sind Alain und ich die einzigen Männer. Welcher andere Mann hat auch schon an einem Dienstagvormittag Zeit, um sich eineinviertel Stunden lang auf einer gelben Matte zu räkeln, durchdrungen von der Sehnsucht, zumindest ein paar alte Sprungfedern seiner verlorenen Spannkraft wiederzufinden? Wobei räkeln nur ein Teil des Programmes ist. Alain versteht es ausgezeichnet, sanfte und spannungsreiche Passagen so