«Und Ihre Mutter», fragt die besonders strenge Rätin zum ersten Mal nicht fordernd, sondern mit einem spürbar neuen, milderen Ton, «hilft Sie Ihnen nicht bei diesem Erneuerungsprozess?»
Ich schüttle den Kopf.
«Nein. Sie kann sich nicht einmal selber helfen. Ich liebe meine Mutter. Aber ich hasse ihre Unterwürfigkeit, ihren vorauseilenden Gehorsam, den sie durch ihre sklavische Existenz so abgrundtief in mir verankert hat. Mein Vater hat meiner Mutter und mir immer die Welt erklärt und uns ganz genau gesagt, was richtig und was falsch ist. Und jetzt, wo er nicht mehr da ist, suche ich mir sofort andere Diktatoren, die mich anleiten und mir sagen, wo es langgeht und was richtig ist.»
«Wen zum Beispiel?», fragt der jüngste Rat.
«Das Smartphone ist so ein Kandidat», antworte ich. «Würde ich es in meine Nähe lassen, dann würde es mir, so wie mein verstorbener Vater, permanent diktieren, wie ich die Dinge zu sehen habe. Nämlich nach Maßgabe seiner Bilder, der Bilder, die auf seinem Display erscheinen. Aber ich habe es so unendlich satt, fremdbestimmt zu werden, dass ich es, um frei zu sein, sogar in Kauf nehme, bei einem Unfall kein Handy dabei zu haben. Ich träume von einer Freiheit, die mir gegenüber dem System die Wahl lässt, nicht innerhalb seiner Normen. Ich will auch nicht alles, was ich esse, im Supermarkt oder im Restaurant kaufen müssen. Deshalb fische ich, seit ich alleine in Gummistiefeln stehen kann. Zwischen mir und dem selbstgefangenen Fisch gibt es keinen Importeur, keinen Händler, keinen LKW, keinen Tiefkühlregaleinräumer und keine Kassiermaschine. Zwischen mir und der Bachforelle gibt es keine Vorschriften, Regeln und Befehle, nur den Rausch der unmittelbaren Begegnung.»
«Würden Sie hier in der Schweiz von dieser Freiheit gegenüber dem System schreiben?», fragt die Direktorin.
«Auf jeden Fall», antworte ich, «das versuche ich immer. Aber oft, wenn ich die Worte dann unten am Papier sehe, bekomme ich Angst und lösche sie wieder.»
«Angst wovor?», möchte der Präsident wissen.
«Vor dem Zerbrechen meiner Freundschaften», antworte ich. «Ich schreibe verhältnismäßig oft über meine Freunde, weil ich sie am besten kenne und an ihnen von außen sehen kann, was ich an mir selbst nicht oder weniger gut bemerke. Dabei gerate ich in ein furchtbares Dilemma. Wenn ich sie idealisiere, dann ist der Text uninteressant, reines Geplänkel. Meine Freunde sind nur auf bestimmten, mehr oder weniger großen Terrains meine Freunde. Es gibt genug Bereiche, wo ich keine Schnittmengen mit ihnen finde und eine schauerliche Fremdheit zwischen uns spürbar wird. Indem ich darüber schreibe, sehe ich plötzlich, wo wir uns tatsächlich berühren, verstehen und wertschätzen können und wo die Grenzen sind, an denen wir einander fremd werden und das Verständnis füreinander anfängt zu bröckeln.»
«Haben Sie aufgrund eines Textes schon einmal einen Freund verloren?», fragt mich die Sekretärin.
«Ja, eine Freundin», gebe ich zu. «In meinem zweiten Roman Grün wie Schnee habe ich über sie und Ihren Vater geschrieben. Natürlich in verklausulierter Form, ohne Klarnamen. Aber meine Freundin war entsetzt. Sie hat mir vorgeworfen sie und ihre Familie öffentlich an den Pranger zu stellen. Sie aber liebe ihren Vater und mich nicht mehr. Obwohl sich von dem Buch wie von allen meinen Büchern nur ein paar Exemplare verkauft haben, unterstellte sie mir, ich hätte mit meinem Text die gesamte Weltöffentlichkeit über ihre Familie informiert. Das hat sie dann dazu veranlasst, mit mir zu brechen. Seit dieser Zeit habe ich oft darüber nachgedacht, ob meine Wahrhaftigkeit diesen Preis wert war.»
«Und», ergänzt die besonders strenge Dame beinahe zärtlich, «war es das?»
«Ich weiß es nicht», räume ich ein, «ich weiß es wirklich nicht und werde es wahrscheinlich nie wissen. Darin besteht ja das Dilemma, das mich immer wieder umtreibt, besonders aber beim Schreiben.»
«Und an welchen Texten würden Sie hier konkret arbeiten?», möchte die etwas weniger strenge Dame noch wissen. Auch ihre Stimme kommt mir spürbar aufgetauter vor.
«An meinem zweiten Krimi», antworte ich, «und einem Schweizer Tagebuch. Ich kenne dieses Land nur aus zwei Quellen. Aus den üblichen Klischees und aus dem Comic Asterix in der Schweiz. Sollte ich hier arbeiten dürfen, würde ich versuchen, mein eigenes Schweizbild zu entwerfen.»
Der Präsident nickt mir gemessen zu, lässt seinen Blick in die Runde schweifen und gibt sich schließlich einen Ruck. «Hat noch jemand eine Frage an den Kandidaten?»
Niemand äußerst sich mehr. Ein paar Stiftungsräte beenden sogar den Kontakt mit dem Tisch, indem sie zurück auf ihre Stühle sinken.
«Dann», wendet er sich wieder an mich, «danken wir Ihnen für die Geduld und die Ausführlichkeit, mit der Sie unsere Fragen beantwortet haben, und wünschen Ihnen noch eine angenehme Heimreise nach Österreich.»
«Ich danke Ihnen auch für die Fragen und die Lebenszeit, die Sie mir gewidmet haben», sage ich und erhebe mich aus dem Sessel. Die Sekretärin steht ebenfalls auf und begleitet mich nach draußen.
«Sobald eine Entscheidung gefallen ist», erklärt sie mir im Vorraum, «werde ich mich bei Ihnen melden.»
Sie drückt meine Hand, aber, kommt mir dabei vor, nicht mehr ganz so zuversichtlich wie bei meiner Ankunft. Dann huscht sie zurück in das Sitzungszimmer.
Die folgende Woche fühlt sich an wie ein Schiffbruch. Ohne Ruder und Kompass treibe ich auf einer glitschigen Planke über das tückische Meer der Ungewissheit. Leise, hoffnungsvolle Strömungen im steten Wechsel mit den gefährlichen Abwärtsspiralen laut gurgelnder Selbstzweifel. Am achten Tag meiner Odyssee ruft die Sekretärin tatsächlich an. Das diesjährige Stipendium, erklärt sie mir, wird erstmals geteilt. Zwischen einer Zürcher Autorin und mir. Jeder von uns bekommt ein halbes Jahr.
OKTOBER
Die süße Maus
«Philippa», sagt Frau Krczal-Gozani mit massiver Betonung der Vokale. Gleichzeitig schwingt ihre rechte Hand auf mich zu. Wahrscheinlich verbirgt sich darin ein Brandeisen, wie es Cowboys benutzen, um Kuhschenkel zu markieren. Mir wird sie jetzt ein großes E in die Haut brennen, um klarzustellen, dass ich ab heute zum Inventar der Eymann-Villa gehöre.
Wir stehen im Eingangsbereich, direkt am breiten Fuß der steilen Eichenholztreppe. Frau Krczal-Gozani ist soeben aus dem Keller aufgetaucht. Sie ist hier die burschikose Haushälterin und hält tatsächlich einen Teil des Hauses, nämlich den Wäschekorb. Beiläufig stemmt sie ihn an ihre mächtige Hüfte und schenkt mir den streng vorwurfsvollen Blick eines Piraten, der hier seinen Schatz verstecken möchte und dabei von einem Unbekannten gestört wird. Bis jetzt bin ich ihr noch nicht persönlich begegnet, weiß aber von der Stiftungssekretärin, dass Frau Krczal-Gozani die Dinge nicht nur im Griff hat, sondern manchmal auch im Schwitzkasten. Sowohl im Haus, als auch ums Haus herum und überhaupt.
«Bei uns ist das alles eher unkompliziert», fährt Frau Krczal-Gozani fort, mit einer Lautstärke, die prophylaktisch darauf Rücksicht nimmt, dass ich in meinem Alter schon mein Hörrohr vergessen habe könnte. «Verstehen Sie den Schweizer Dialekt oder soll ich Hochdeutsch mit Ihnen reden?»
«Hochdeutsch, bitte», ersuche ich, «vom Schweizer Deutsch hab ich bis jetzt nur verstanden, dass etwas kleiner wird, wenn man ein -li anhängt … und wenn das für Sie nicht zu aufdringlich wirkt, dann können wir auch gerne Du zueinander sagen. Wir werden hier ja immerhin ein halbes Jahr gemeinsam leben. Ich heiße Erich.»
«Philippa», wiederholt Frau Krczal-Gozani so laut, als solle eine weitere Philippa von der Straße hereingerufen werden. «Und mein Mann heißt Pavel, mein Sohn Reto und meine Tochter, die süße Maus, Sarah.»
Als sie von ihrer Tochter spricht, ändert sich der Klang von Frau Krczal-Gozanis Stimme. Ein plötzliches Leuchten überzieht die harten Ecken der Konsonanten mit dem weichen Schutzfilm einer unbedingten Liebe. Die Strahlen dieser Sonne perforieren