So schritt ich denn eines Donnerstagmorgens durch das Tor Saint-Eloi, ließ Tours hinter mir, ging über die Saint-Sauveur-Brücken, gelangte nach Poncher, wobei ich an jedem Haus hinaufsah, und schlug die Richtung nach Chinon ein. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich unter einem Baume stehenbleiben, nach Wunsch langsam oder schnell gehen, ohne jemand Rechenschaft abzulegen. Für ein armes Wesen, das sich unter den vielen Gewalttaten, die mehr oder minder eines jeden Jugend bedrohen, hatte ducken müssen, wirkte der erste Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts, und wenn es sich nur um Nichtigkeiten handelte, so befreiend wie ein glücklicher Rausch. Vieles kam zusammen, um aus jenem Tag ein wunderbares Freudenfest zu machen... In meiner Kindheit hatten mich meine Spaziergänge nie mehr als eine Meile weit vor die Stadt geführt. Meine Wanderungen in der Umgebung von Pont-le-Voy oder in Paris hatten mich in meinen Ansprüchen an ländliche Naturschönheiten nicht verwöhnen können. Aber ich hatte aus meinen ersten Jugenderinnerungen das Verständnis für die Schönheit der mir vertrauten Landschaft um Tours herübergerettet. Obwohl mein Empfinden für die Natur völlig ungeschult war, stellte ich doch unbewusst hohe Anforderungen an die Landschaft, wie alle, denen ein Kunstideal vorschwebt, ohne dass sie praktische Erfahrung besäßen. Um zum Schloss Frapesle zu gelangen, kürzen Fußgänger und Reiter den Weg ab und durchqueren die sogenannte Charlemagne-Heide, ein Brachland, das oben auf der Wasserscheide zwischen Indre und Cher liegt und worüber auch ein Pfad nach Champy führt. Diese flachen, sandigen Gelände, die sich eine Meile weit trostlos hindehnen, münden in einem kleinen Gehölz auf die Straße von Saché; so heißt das Dorf, in dessen Bezirk Frapesle liegt. Dieser Weg, der sich jenseits von Ballan mit der Straße von Chinon vereinigt, läuft am Rand einer sanft gewellten Ebene hin bis zu dem kleinen Gebiet von Artanne. Von dort blickt man in ein Tal, das bei Montbazon beginnt und sich bis zur Loire erstreckt. Es sieht aus, als ob es sich unter den Schlössern bäumte, die auf seinem doppelten Hügelsaum lasten: eine wundervolle Smaragdschale, auf deren Grunde sich die Indre mit Schlangenbewegungen hinzieht. Bei diesem Anblick packte mich ein wohliges Staunen, das die Eintönigkeit der Heide und die Wandermüdigkeit vorbereitet hatten.
›Wenn jene Frau, die Blüte ihres Geschlechts, irgendwo auf dieser Welt wohnt, so muss es hier sein!‹
Dabei lehnte ich mich an einen Nussbaum, unter dem ich seither jedesmal raste, wenn ich in mein geliebtes Tal zurückkehre. Unter jenem Baum, dem Vertrauten meiner Gedanken, sinne ich den Veränderungen nach, die mit mir vorgegangen sind, seit ich zuletzt dort war. Sie wohnte dort, mein Herz trog mich nicht. Das erste Schloss, das ich am Abhang sah, war ihr Heim. Als ich mich unter meinen Nussbaum setzte, leuchteten die Schiefer ihres Daches und glitzerten ihre Fenster in der Mittagssonne. Ihr Leinenkleid war der weiße Punkt, den ich in ihren Reben unter einem Pfirsichbaum gewahrte. Sie war, wie Sie schon ahnen, die ›Lilie dieses Tales‹, wo sie für den Himmel blühte und das sie mit dem Duft ihrer Tugenden erfüllte... Die unendliche Liebe, die keine andere Nahrung fand als den weißen Punkt, den sie von fern erblickte und der meine Seele ausfüllte, diese Liebe fand ich versinnbildlicht in dem langen Wasserbande, das sich zwischen grünen Ufern sonnbeschienen hinschlängelt, in der Pappelzeile, deren schwanke Spitzengewebe dieses Liebestal schmücken, in den Eichenwäldchen, die sich in die Weinberge hineinschieben, in den Abhängen, die des Flusses wechselreiche Windungen umspielen, in den blauen Horizonten, die verdämmernd ineinandergreifen. Wollen Sie die Natur schön und jungfräulich wie eine Braut sehen, so gehen Sie an einem Frühlingstag dorthin. Wollen Sie die blutenden Wunden Ihres Herzens lindern, so kehren Sie in den letzten Herbsttagen dahin zurück. Im Frühling streicht die Liebe dort mit vollen Flügelschlägen durch den Himmel; im Herbst denkt man dort derer, die nicht mehr sind. Die kranke Lunge atmet dort wohltuende Frische; der Blick ruht auf übergoldetem Gebüsch, das der Seele seine friedliche Milde mitteilt. – In diesem Augenblick verliehen die Mühlen, die von den Fällen der Indre getrieben wurden, dem erschauernden Tal eine Stimme; die Pappeln wiegten sich lachend. Keine Wolke am Himmel. Die Vögel sangen, die Grillen zirpten, alles war Musik. Fragen Sie mich nicht, warum ich die Touraine liebe! Ich liebe sie weder so, wie man eine Wiege liebt, noch wie man eine Oase in der Wüste liebt. Ich liebe sie, wie ein Künstler die Kunst liebt. Ich liebe sie weniger, als ich Sie liebe, aber ohne die Touraine lebte ich vielleicht nicht mehr ... Ohne zu wissen, warum, kehrten meine Augen zu dem weißen Punkt zurück, zu der Frau, die in diesem weiten Garten erglänzte, wie inmitten grüner Büsche der leuchtende Kelch einer Winde, die die leiseste Berührung zum Welken bringt. Mit bewegter Seele stieg ich hinab in die Talmulde, und bald erblickte ich ein Dorf, das meinem überschäumenden Poetenherzen unvergleichlich schön zu sein schien. Stellen Sie sich drei Mühlen zwischen anmutig ausgebuchteten, baumgekrönten Inseln vor, umgrünt von einer blühenden Wasserwiese... Wie sollte man sie anders bezeichnen, jene Wasserpflanzen, die lebensfroh und farbenprächtig den Fluss überkleiden, die aus den Fluten emportauchen, sich auf ihnen wiegen, sich ihren Launen anpassen und die im Gischt des vom Mühlrad gepeitschten Flusses schwanken?... Hier und da erheben sich Kiesbänke, das Wasser bricht sich daran und bildet lange Fransen, in denen die Sonne leuchtet. Amaryllis, Seerosen, Seelilien und Schilfrohr bedecken die Ufer mit ihren herrlichen Stickereien. Eine morsche Brücke aus verfaulten Balken, deren Pfähle blumenüberwachsen sind, deren Brüstung frisches Gras und samtweiches Moos polstern, neigt sich zum Wasser und steht doch fest. Altersschwache Kähne, Fischernetze, der eintönige Gesang eines Hirten; Enten, die zwischen den Inseln hin und her schwimmen oder auf dem groben Sand, den die Loire mit sich führt, ihre Federn glätten; Müllerburschen, die Mütze auf einem Ohr, mit ihren Maultieren beschäftigt: jede dieser Einzelheiten verlieh dem Bild einen überraschenden Reiz. Denken Sie sich jenseits der Brücke zwei oder drei Bauernhöfe, einen Taubenschlag, Turteltauben, etliche dreißig baufällige Hütten, die durch Gärten, Geißblatt-, Jasmin- und Klematishecken getrennt waren, und vor allen Türen blütenbunte Düngerhaufen, Hühner auf allen Wegen: da haben Sie Pont-de-Ruan, ein hübsches Dorf, von einer alten, eigenartigen Kirche überragt, einer Kirche aus der Zeit der Kreuzzüge, wie sie Maler für ihre Bilder suchen. Denken Sie sich das Ganze umrahmt von alten Nussbäumen und jungen Pappeln mit mattgoldenem Laub, und mitten in diesen weiten Wiesen, über denen der warme, dunstige Himmel sich wölbt, freundliche Fabriken, dann werden Sie eine Vorstellung haben von den tausend landschaftlichen Schönheiten dieses Landes. Ich folgte dem Wege nach Saché auf dem linken Flussufer, behielt aber die Hügel auf dem andern Ufer aufmerksam im Auge. Und endlich gelangte ich an einen Park mit uralten Bäumen, der mir die Nähe des Schlosses Frapesle verriet. Ich kam gerade an, als die Glocke zum Mittagessen rief. Nach Tisch ließ mich mein Gastgeber, der nicht vermutete, dass ich von Tours zu Fuß gekommen sei, die Umgebung durchstreifen, wo ich allenthalben das Tal in seiner mannigfachen Schönheit betrachten konnte; bald sah ich nur einen Ausschnitt, bald das ganze Bild. Oft hefteten sich meine Blicke auf das flüssige Gold der Loire am Horizont, wo weiße Segel phantastische Gestalten annahmen, die vom Winde auseinandergetrieben wurden. Ich erklomm einen Hügel und bewunderte von dort zum erstenmal das Schloss von Azay: es schien mir ein geschliffener Diamant mit vielen Facetten, den die Indre einfasste, den blumenverdeckte Pfeiler trugen. Dann sah ich in einem Talgrund den massiven Bau des romantischen Schlosses von Saché, ein schwermütiges Stück Erde, vollkommen in seiner Traurigkeit, zu ernst für den oberflächlichen Beschauer und nur dem Dichter teuer, dessen Herz krank ist. Wie lernte ich später seinen Frieden lieben, die großen kahlen Bäume und das geheimnisvolle Etwas, das in seinem Tale wob. Aber jedesmal, wenn ich wieder auf dem Abhang des benachbarten Hügels das anmutige kleine Schloss erblickte, das meine Augen gleich angezogen hatte, verweilten dort meine Gedanken und waren voll Liebe.
»Aha«, sagte mein Gastgeber, der in meinen Blicken einen jener feurigen Wünsche las, die sich in meinem Alter so naiv äußern, »Sie riechen von weitem eine hübsche Frau, wie ein Hund Wild wittert.«
Die Äußerung gefiel mir nicht; aber ich fragte nach dem Namen des Schlosses und dem des Eigentümers.
»Das ist Clochegourde«, antwortete er, »ein hübsches Haus, das dem Comte de Mortsauf gehört, dem Spross einer alten Adelsfamilie der Touraine, die auf Ludwig XI. zurückgeht und deren Name auf das seltsame Ereignis hinweist, dem sie Ruhm und Wappen