Diese beiden jungen Leute urteilten um so souveräner über die Gesellschaft, als sie eine niedrige Stellung in ihr einnahmen; denn die Unbekannten rächen oft die Niedrigkeit ihrer Lage mit dem Hochmut ihrer Betrachtungsweise. Aber ebenso war auch ihre Verzweiflung um so bitterer, weil sie gerade dadurch schneller ihrem wahren Geschick entgegengetrieben wurden. Lucien hatte viel gelesen, viel verglichen, David hatte viel gedacht, viel gesonnen. Trotz seines gesunden und bäurischen Aussehens war der Drucker ein melancholischer und kränklicher Geist, er zweifelte an sich selbst; Lucien dagegen hatte einen unternehmenden, aber schwankenden Geist und eine Kühnheit, die im Widerspruch stand zu seiner weichen, fast schwächlichen Gestalt, die voll weiblichen Reizes war. Lucien war im höchsten Maße der Charakter des Gascogners eigen: er war kühn, tapfer, abenteuerlich, ein Charakter, der das Gute übertrieben gut sieht und das Üble nicht allzu schlimm nimmt, der vor keinem Fehltritt zurückschrickt, wenn ein Nutzen dabei herausspringt, und sich nichts aus dem Laster macht, wenn er sich eine Staffel daraus machen kann. Diese Anlage der Ehrsucht wurde damals noch unterdrückt von den schönen Illusionen der Jugend, von der Glut, die ihn die edeln Mittel zu suchen antrieb, die ja ruhmbegierige Männer vor allen anderen anwenden. Er hatte nur erst mit seinen Wünschen und noch nicht mit den Widerwärtigkeiten des Lebens zu kämpfen, mit seiner eigenen Macht und noch nicht mit der Erbärmlichkeit der Menschen, die für schwankende Geister ein so verhängnisvolles Beispiel ist. Lebhaft verführt von seinem blendenden Geist, bewunderte David Lucien, ohne sich über die Irrtümer im unklaren zu sein, in die ihn das französische Ungestüm versetzte. Dieser schlichte Mann hatte einen schüchternen Charakter, der im Widerspruch stand zu seiner kräftigen Konstitution, aber es fehlte ihm nicht an der Festigkeit nördlicher Menschen. Wenn er auch Schwierigkeiten sah, nahm er sich doch vor, sie zu überwinden, ohne zu wanken, und wenn ihm die Festigkeit einer wahrhaft apostolischen Tugend eignete, milderte er sie durch die sanfte Anmut einer unerschöpflichen Nachsicht. In dieser schon nicht mehr jungen Freundschaft liebte einer von beiden wahrhaft vergötternd, und das war David. Und so kommandierte Lucien wie eine Frau, die sich geliebt weiß. David gehorchte mit Vergnügen. Die körperliche Schönheit seines Freundes gab diesem für David eine Überlegenheit, unter die er sich beugte; sich selbst fand er schwerfällig und gewöhnlich.
»Dem Ochsen das geduldige Pflügen, dem Vogel das freie Leben«, sagte sich der Drucker. »Ich werde der Ochse sein, Lucien der Adler!«
Seit ungefähr drei Jahren hatten so die beiden Freunde ihr Schicksal, dessen Zukunft sich so glänzend gestalten sollte, vereinigt. Sie lasen die großen Werke, die seit dem Friedensschluss auf literarischem und wissenschaftlichem Gebiete erschienen waren, die Werke von Schiller, Goethe, Lord Byron, Walter Scott, Jean Paul, Berzelius, Davy, Cuvier, Lamartine usw. Sie wärmten sich an diesen großen Feuern, sie versuchten sich selbst an Werken, die missglückten oder die angefangen, aufgegeben und glühend wieder aufgenommen wurden. Sie arbeiteten unaufhörlich, ohne die unerschöpflichen Kräfte der Jugend zu ermüden. Beide gleich arm, aber von der Liebe zur Kunst und Wissenschaft verzehrt, vergaßen sie ihr gegenwärtiges Elend und beschäftigten sich damit, die Grundlagen ihres künftigen Ruhms zu legen.
»Lucien, weißt du, was ich eben von Paris bekommen habe?« fragte der Drucker und zog einen kleinen Duodezband aus seiner Tasche. »Höre!«
David las, wie die Dichter zu lesen verstehen, die Idylle von André de Chénier vor, die den Namen »Neère« führt, dann den »Jungen Kranken« und schließlich die Elegie über den Selbstmord die erste in antiken Metren und die beiden andern in Jamben.
»Das ist also Andrè de Chénier!« rief Lucien wiederholt aus. »Es ist zum Verzweifeln«, wiederholte er zum drittenmal, als David, der zu erregt war, um weiterzulesen, ihm den Band überließ.
»Ein Dichter, den ein Dichter wieder entdeckt hat!« sagte er beim Anblick der Unterschrift unter der Vorrede.
»Als Chénier«, fing David wieder an, »diesen Band fertig hatte, hielt er ihn für unwert, veröffentlicht zu werden.«
Lucien seinerseits las das epische Stück »Der Blinde« und mehrere Elegien. Als er zu dem Fragment kam: »Wenn sie glücklos sind, wo ist dann Glück auf Erden –« ließ er das Buch sinken, und die beiden Freunde weinten, denn beide waren leidenschaftlich verliebt. Wie von der Berührung einer Fee waren die Weinranken erglüht, die alten, rissigen, zerbeulten, kreuz und quer von hässlichen Sprüngen durchzogenen Mauern des Hauses waren wie mit Säulen, Gewölbebogen, Basreliefs und unzähligen Meisterwerken einer unbekannten Architektur geziert. Die Phantasie hatte ihre Blumen und ihre Rubine auf den kleinen dunklen Hof geschüttet. Die Kamilla André de Chéniers war für David seine angebetete Eva geworden und für Lucien eine große Dame, der er den Hof machte. In ihrem feierlich wallenden Sternengewand war die Poesie durch die Werkstatt geschritten, wo die Affen und die Bären mit ihren Grimassen hin und her huschten. Es schlug fünf Uhr, aber die beiden Freunde verspürten weder Hunger noch Durst; das Leben war ihnen ein goldener Traum, alle Schätze der Erde lagen zu ihren Füßen. Sie gewahrten ein blaues Stückchen Himmel, wie es die Hoffnung denen zeigt, deren Leben schwer und stürmisch ist und denen ihre Sirenenstimme zuruft: »Eilet, flieget, durch dieses Stückchen Silber oder Azur sollt ihr dem Elend entgehen.« In diesem Augenblick öffnete ein Lehrling namens Cérizet, ein Pariser Junge, den David hatte nach Angoulême kommen lassen, die kleine Glastür, die von der Werkstatt in den Hof führte, und zeigte die beiden Freunde einem Unbekannten, der grüßend näher trat.
»Hier habe ich«, sagte er zu David und zog ein umfangreiches Heft aus der Tasche, »eine Denkschrift, die ich drucken lassen möchte. Möchten Sie kalkulieren, was sie kosten wird.«
»Ich bedaure,« antwortete David; ohne das Heft anzusehen, »wir drucken keine so umfangreichen Manuskripte, Sie müssen sich an die Herren Cointet wenden.«
»Wir haben aber doch eine sehr hübsche Schrift, die sich eignen könnte«, fiel Lucien ein und nahm das Manuskript in die Hand. »Sie müssten die Freundlichkeit haben, morgen wiederzukommen und uns Ihr Werk zur Berechnung der Druckkosten hier zu lassen.«
»Habe ich nicht mit Herrn Lucien Chardon die Ehre?«
»Jawohl«, antwortete der Faktor. »Ich bin glücklich,« sagte der Schriftsteller, »einen jungen Dichter kennen zu lernen, dem eine so schöne Zukunft bevorsteht. Ich bin von Frau von Bargeton geschickt.«