Über Umwege fand ich in einer nahen Wetterstation Zugang zu Wayne Davidson, einem Klimatologen, der mich in die Tücken der Arktis einführte. Er zeigte mir auf Satellitenbildern, wie bei Vollmond im Packeis im Verlauf eines Tages eine über 200 Kilometer lange und 16 Kilometer breite Wasserspalte aufriss. Weil die arktische Polkappe kein Festland aufweist, sondern lediglich aus einer Platte von Packeis besteht, wird sie von Wind, Wetter und unter dem Einfluss der Mondphasen ständig bewegt. Druck und Zug pressen die Eisplatten gegeneinander hoch, reiben sie aneinander oder reißen sie weit auseinander. Wayne fragte, ob ich wisse, was mit einem geschieht, der sein Camp zufällig in dieser Zone aufschlägt. Ohne meine Antwort abzuwarten, sagte er trocken: »You are going to die.« Wer Glück hat, schwimmt mitsamt dem Zelt wie auf einem mächtigen Floß von dannen, mutterseelenallein – oder in Gesellschaft eines Eisbären.
Ein bekannter Sologänger, der daran war, den Nordpol von Russland aus nach Kanada zu überqueren, bestätigte später Waynes Warnung Wort für Wort. Er wagte sich auf junges Eis, das beim Durchzug einer Schlechtwetterfront von der Packeisplatte wegbrach. Die Bilder in den Medien vom einsamen Burschen, der sich von furchtlosen russischen Piloten von der Eisscholle bergen lässt, sehen beeindruckend aus. Die Naturgesetze der Arktis bestrafen menschlichen Ehrgeiz, der sich mit Ungeduld paart. Nur die neuesten Hilfsmittel wie Satellitentelefon und Helikopter haben die Rettung des Sologängers ermöglicht. Wer mit den Verhältnissen vertraut ist, kann das Risiko einschätzen und vermeidet die gefährdeten Stellen. Ich hatte begriffen, dass ich die Lage in den Bergen, aber nicht die in der Arktis beurteilen kann, und beschloss: Ich will festen Boden unter den Füßen haben. Festland wie auf Antarctica.
Auf der Suche nach einem Konzept
Schritt für Schritt hatten sich meine antarktischen Träume der harten Wirklichkeit und meinen begrenzten Möglichkeiten anzunähern. Mein erster Traum war es, die ganze Antarktis zu durchqueren. Von Küste zu Küste. Allein und zu Fuß. Daraus ist nichts geworden, weil ich zu wenig unvernünftig war. Ich informierte mich und versuchte mir vorzustellen, was diese und jene Information in Wirklichkeit für mich, auf mich allein gestellt, bedeuten würde. Ich suchte den kürzesten Weg vom »Rand« des Kontinents, das heißt vom Ronne-Schelf im Weddell-Meer, südlich von Südamerika, zum Pol. Und ich schaute, wohin ich gehen müsste, wenn ich den kürzesten Weg zum »Rand« auf der gegenüberliegenden Seite wählen würde. Nach McMurdo am Ross-Schelf. Selbst unzulängliche Karten machten mir klar, dass sich zwischen dem Pol und McMurdo das Transantarktische Gebirge hinzieht. Eine lange Kette hoher Gipfel, die nicht zu umgehen, aber zu übersteigen sind. Auf etwas genaueren Karten sind Gletscher zu erkennen. Und wo sich Gletscher über Senken und Kreten wälzen, öffnen sich Spalten. Ich konnte einen Übergang über den Beardmore- oder den Shackleton-Gletscher wählen, doch das ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich bin Bergführerin. Ich habe Freunde in Spalten verloren, ich habe gesehen, wie Leute in Spalten einbrachen. Einige zog ich eigenhändig am Seil wieder raus. Nicht dass ich vor Spalten Angst habe. Aber Respekt. Eine Seilschaft kann sich sichern. Im Alleingang kann mir alles passieren. Es ist nicht mein Traum, in der blau gleißenden Enge einer Spalte zu erfrieren.
Die Idee Südpol begann Form anzunehmen: Anreise ab Innertkirchen aus eigener Kraft bis Punta Arenas im tiefsten Süden Südamerikas und dann allein und ohne fremde Hilfe auf Skis vom Ronne-Schelf bis zum Pol und mit dem Flugzeug wieder zurück. Das musste klappen. An der Grenze der menschlichen Möglichkeiten – aber möglich, wenn ich mich voll darauf konzentrierte, alles gab und die nötigen Vorkehrungen traf, um sicher anzukommen und wieder nach Hause zu finden.
Wie einst Jürg Marmet und Ernst Schmied
Später, während der langen, eintönigen Tage auf dem Fahrrad, begannen Zweifel zu nagen. Warum hatte ich mich in diese Idee mit dem Fahrrad verbissen? In flachem Gelände fahren ist nicht mein Ding. Es zieht mich bergauf. Mit Händen und Füßen. Am liebsten senkrecht nach oben. Warum musste ich jetzt, da mein Ziel der Südpol war, so beschwerlich in Zeitlupe anreisen? War die Antarktis nicht genug? Aber ich hatte meine Gründe, mich bis Punta Arenas auf dem Sattel zu halten.
Zum Projekt gehörte von Anfang an, das Ziel aus eigenen Kräften zu erreichen. Doch die Frage blieb berechtigt. Sie stellte sich mit äußerster Dringlichkeit. Wozu dieser Auftakt, der so viel Zeit und Kraft erforderte? Mutete ich mir damit nicht Unnötiges zu? Doch jetzt, da der Erfolg auf meiner Seite ist, hat sich meine Bergsteigererfahrung bestätigt: Zu hohen Zielen gibt es keine Abkürzung. Kommst du weiter – persönlich weiter, meine ich –, wenn du hier auf dem Airport in die Maschine steigst und einen O-Saft später am anderen Ende der Welt auf den Boden kommst? Erfahrung kommt mit der Zeit und mit dem Weg. Ein Sturz vom Fahrrad gleich zu Beginn der Reise belegte das deutlich genug.
Ja, diese Welterfahrung durch ein Erfahren der Welt gehörte dazu. Vielleicht muss ich etwas weiter ausholen. Ich war noch nicht geboren, als Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay 1953 als Erste auf dem Mount Everest standen. Auch noch nicht, als die beiden Berner Jürg Marmet und Ernst Schmied drei Jahre später die Zweitbesteigung schafften. Aber die beiden sollte ich viele Jahre später persönlich kennen lernen.
2001, genau fünfundvierzig Jahre nach ihnen, stand auch ich auf dem höchsten Berg dieser Erde. Das hat sich herumgesprochen hierzulande: »Die Evelyne war auf dem Everest.« Für mich stimmt das aber nur halb. Mein Ziel war der Sagarmatha, »die Stirn des Himmels«, wie die Nepali sagen; oder wie es in Tibet heißt: die Chomolungma, die Muttergöttin der Erde. Das macht einen Unterschied. Der Everest ist wie ein anderer Berg, der äußerlich identisch an der gleichen Stelle steht – und entsprechend den Weltmachtverhältnissen im zwanzigsten Jahrhundert hat sich der westliche Namen durchgesetzt …
Der Everest hat seinen Namen vom britischen Geometer George Everest. Dieser hat im vorletzten Jahrhundert von Indien aus seine Lage vermessen. »Iivrist« soll er seinen Namen ausgesprochen haben. Die Lautverschiebung zum »Everest« machte aus dem Berg nach englisch »ever« »den Ewigsten« daraus. Ein Superlativ mit Salto mortale ins Absurde, bei dessen Besteigung sich messbare Rekorde verwirklichen lassen.
Mir ging es mehr um Erfahrung als um Leistung. Doch hatte auch ich mich von der Gipfelstürmerei anstecken lassen. Auch ich war angereist im Spitzensportlerstil zu einem Spitzensportlerspiel, als wäre das Basislager ein Wettkampfplatz. Auch ich brachte mein Gipfelbild als Beweis und Trophäe nach Hause. So erreichte ich denn mit einem Fuß die Chomolungma und mit dem andern nur den Everest. Ehrgeiz nach äußerem Erfolg beeinträchtigte meine Offenheit für die Erfahrung und Erkenntnis der Muttergöttin und der Stirn des Himmels. Das wurde mir erst allmählich bewusst. Die Offenheit für das Mystische in der Natur sollte in Zukunft mehr Bedeutung erlangen: etwas, das Tibetern und Nepalis vertraut ist, als Erfahrung eines inneren und eines äußeren Raumes.
Mir wurde klar, Schmied und Marmet waren dieser Erfahrung näher gewesen. Sie hatten etwas erlebt, von dem sie fast mehr zu erzählen wussten als von den Augenblicken »jenseits der belebten Welt«. Noch vor dem Jet-Zeitalter waren die beiden mit ihren Koffern und Säcken im Bahnhof Bern in die Eisenbahn gestiegen. Sie reisten auf dem Landweg nach Osten. Wie vor ihnen Marco Polo, Phileas Fogg oder auch die beiden Schweizerinnen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart. Durch Felder und Wälder, Wüsten und Steppen, durch Länder, in denen damals die Sitten und Gebräuche noch verschiedener waren als heute. Sie erlebten Distanz. Eine Reise mit einem Anfang und einem Schluss. Wie Marmet und Schmied ihre Koffer und Säcke über die alte Seidenstraße aufs Dach der Welt hinaufschleppten, das erst gab ihrem Everest-Abenteuer den soliden Boden, auf dem sich Größe auszeichnet.
Der große Luftsprung direkt an den Startplatz im Süden Chiles kam für mich einfach nicht mehr in Frage. Da war die große Neugier: Was liegt zwischen Innertkirchen und dem Eis im tiefen Süden? Die physische und psychische Erfahrung von Distanz, von Nähe und Ferne und von den Dingen, die sich stoßen im Raum. Diese Freiheit des Unterwegsseins hatte ich bisher noch nicht erfahren. Das Ungewöhnliche hat ja seinen Reiz: Allein mit der eigenen Muskelkraft von nördlichen Breiten bis zum Südpol gelangen. Das hat noch niemand zuvor gemacht. Ja, ganz ohne gesellschaftlichen Ansporn, ganz ohne Lust auf Leistung lässt sich keine neue Erfahrung gewinnen, auch das muss man sehen.