Bei ihnen, meinem Cousin Markus mit Vreni, meiner Cousine Ruth mit Familie und meiner Cousine Liliane und allen, die mir die Daumen gedrückt und zum Gelingen dieser Expedition beigetragen haben, bedanke ich mich an dieser Stelle von Herzen.
Evelyne Binsack
PS: Den unschätzbaren Wert einer unbeschwerten Kindheit und einer Ausbildung, wie ich sie genießen durfte, kann ich erst richtig würdigen, seit ich mich als Botschafterin für SOS-Kinderdorf engagiere. Der Besuch in León, Nicaragua, hat mich begeistert (siehe Seite 67). Die SOS-Familien haben Ihre Spende mehr als verdient (www.sos-kinderdorf.ch).
INTRO
Während fast vier Jahren ging ich mit meiner Idee zu Bett und wachte morgens wieder mit ihr auf. Sie war ein Teil von mir geworden und fühlte sich inzwischen an wie meine eigenen Arme und Beine. Ich schaute mir selber zu und staunte, wie eine simple Idee – ein Konstrukt aus Gedanken – zur Wirklichkeit wurde. Was ein »Nichts« war, wurde auf einmal erlebbar und bestimmte das Handeln.
Meine erste Erkenntnis über die Antarktis war, wie wenig ich darüber wusste. Was südlich von Südafrika, Neuseeland und Südamerika lag, nahm ich als weißen Fleck auf der Karte hin, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Erst als meine Absichten handfester wurden, begann ich das Licht und den Schatten, die Farben und Strukturen dieses Weiß aus Schnee und Eis mit wacheren Augen zu betrachten. Auf meiner geistigen Erkundungsfahrt in den südlichen Polarkreis »entdeckte« ich einen Kontinent; ich fand Buchten und Halbinseln und Berge mit Spitzen bis rund 5000 Meter über Meer. Ich lernte, verschiedene Arten von Eis zu unterscheiden, und ich entdeckte, dass dieser unbekannteste aller Kontinente auch der ungewöhnlichste ist. Der kälteste, der trockenste und der windigste Kontinent dieser Erde.
Am Südpol geht die Sonne jedes Jahr nur einmal auf, im September, um ununterbrochen bis im März am Himmel zu stehen. Auf Antarctica lagern über neunzig Prozent des Eises der Erde und siebzig Prozent der Süßwasservorräte. Das Abschmelzen dieser Inlandeiskappe würde den Meeresspiegel um sechzig Meter anheben. Hier fallen weniger Niederschläge als in der Sahara und jeder anderen Wüste der Welt. Im Mittel um die fünf Zentimeter im Jahr. Umso erstaunlicher, dass sich daraus im Laufe der Jahrmillionen Eisschichten von mehreren Tausend Metern gebildet haben.
Je mehr ich mich mit dem Weißen Kontinent von der antarktischen Halbinsel bis zum Weddell-Meer auseinandersetzte, desto klarer wurde mir, wie viele Fragen von der Forschung bis heute unbeantwortet geblieben sind. Nicht einmal die Größe von Antarctica lässt sich eindeutig bestimmen. Was gilt? Die Eisoberfläche oberhalb des Meeresspiegels? Die gesamte Erdoberfläche innerhalb der Küstenlinie oder der Rand des Schelfeises, das sich weit über die Küste ins Meer hinaus ergießt? Alles fließt. Das Inlandeis, das kilometerdick in träger Bewegung vom Herzen des Kontinents wie ein Gletscher Richtung Küste fließt und dort zu Schelfeis wird, das weit draußen im Meer abbricht und zu Eisbergen wird. Und was ist mit dem Packeis – dem gefrorenen Meerwasser rund um den Kontinent –, das im Verlauf des antarktischen Winters, von März bis September, die antarktische Eisfläche auf die doppelte Fläche des Landeises anwachsen lässt?
Ich erfuhr auch, dass Antarctica ohne seine Eisdecke ganz anders aussähe, weil das Gewicht des Inlandeises den Felsuntergrund im Lauf von Millionen von Jahren an manchen Stellen satte 1000 Meter unter die Meereshöhe gedrückt hat. Im sogenannten subglazialen Graben der Westantarktis, 2538 Meter unter dem Meeresspiegel, liegt es über 4500 Meter dick, und auch am Pol auf 2800 Meter über Meer liegt der Fels tiefer als der Meeresspiegel. Nicht weit davon entfernt durchzieht das Transantarktische Gebirge den Kontinent auf einer Länge von 4000 Kilometern, und der Mount Vinson (4892 m) in der Kette der Ellsworth Mountains erhebt sich höher als der höchste Alpengipfel, der Mont Blanc.
Nicht ganz überall reicht die weiße Decke bis an die Küste, und einige kleine Löcher hat sie auch. Drei sogenannte Trockentäler im Transantarktischen Gebirge in der Nähe von McMurdo sind seit Millionen von Jahren eisfrei, und Namen wie Victoria-See und River Onyx – mit dreißig Kilometern der längste Fluss der Antarktis – ließen fast Heimatgefühle wach werden, wenn man nicht wüsste, dass sie nur zwei Monate im Jahr eisfrei sind.
Wenn die Ostantarktis ganz eisfrei wäre, das geht aus entsprechenden Karten hervor, dürfte die übrig bleibende Landmasse der zersplitterten Seenlandschaft Finnlands und Kanadas gleichen. Und immer wieder stoßen die Forscher auf neue Überraschungen: Vor ein paar Jahren wiesen Satellitenaufnahmen in der Nähe der russischen Station Wostok auf einen riesigen See hin, bedeckt von mehr als 3600 Meter dickem Eis.
Je mehr ich erfuhr und erahnte, umso unwiderstehlicher zog mich der Kontinent an, in dem es zur Zeit meiner Vorbereitungen noch keinen Zahnarzt und keinen Linienflug gab. Ja, es ist schon ein besonderer Ort. Da ist bis heute kein Staat zu machen und wird hoffentlich auch nicht so bald einer gemacht. Welch ein Kontinent: ohne Regierung, ohne Flagge. Frei von wirtschaftlicher Ausbeutung und fern von militärischen Konflikten sollte gemäß dem internationalen Antarktisvertrag von 1961 kein Mensch dieser Region seinen Stempel aufdrücken. Niemand besitzt Antarctica. Antarctica ist Niemandsland geblieben. Kein Krieg, kein Aufstand, keine Revolution hat je den Kontinent erschüttert. Die Ureinwohner, die Pinguine, leben nach ihren eigenen Gesetzen zusammen. Ein Meer der Stille. Fast wie auf dem Mond.
Nur an den Rändern und in den wenigen eisfreien Gebieten kann sich etwas Leben entwickeln. Mikroorganismen, Flechten und Moose sowie zwei Blütenpflanzen, die antarktische Schmiele und ein Nelkengewächs. Das größte dauerhaft landlebende Tier ist eine zwölf Millimeter große, flügellose Zuckmückenart. Nichts schimmelt, nichts fault in der aseptischen Welt der küstenfernen Regionen.
Bis heute ist der Homo sapiens hier ein flüchtiger Gast. Einige wenige Tausend sind es im Sommer. Weniger als die Hälfte bleiben über den Winter: weltweite Halbnomaden, die zwischen den Unis der Welt und den rund achtzig antarktischen Forschungsstationen hin und her pendeln. Selbst auf der größten dieser Stationen, der amerikanischen McMurdo-Station auf der Ross-Insel, übersommern kaum mehr als tausend Personen.
Auch in den nächsten Jahren dürfte es niemanden hierhin verschlagen, um sich häuslich niederzulassen und sich Schätze und Reichtum zu holen. Nur wenige sind hier geboren, aber schon viele gestorben. Erfrieren kann man sowieso, aber auch verhungern. Robert Scott ist verdurstet, mitten im größten Trinkwasser-Reservoir dieser Erde. Doch wo ist der Brennstoff, um es zu verflüssigen? Nichts ist hier leicht zu nutzen, weder Erde noch Feuer und auch nicht die Bodenschätze, so reichlich sie vorhanden sein mögen. Was ich auf Antarctica finden sollte, war eine Landschaft »reduced to the max«. Heller, klarer, sonniger und reiner als alles, was ich je erlebt hatte.
Es gibt nur ganz wenige Reize, aber die in schier unerträglichem Ausmaß. Da ist der Himmel, das Eis, der Wind und die Kälte. Nichts sonst. Bis zur Unerträglichkeit. Da locken nur geistige Werte. Der Ruhm vielleicht, die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis und die Suche nach sich selbst in so viel Einsamkeit, in einer unendlich scheinenden, unberührten Natur – welch schöne Utopie zur Verwirklichung meiner Träume.
DIE JAHRE DAVOR
2002 bis 2006
Ans Ende der Welt – und zurück zu mir selbst
Am Anfang hatte ich die Begehung von drei äußersten Punkten auf dieser Erde geplant: dem höchsten, dem nördlichsten und dem südlichsten. Der Everest, der Nordpol und der Südpol. Mein nächstes Ziel nach meiner Everest-Begehung im Jahr 2001 war der Nordpol. Zum Training flog ich nach Resolute auf Cornwallis Island. Dieser kanadische Vorposten des hohen Nordens in der Baffin Bay, die in der Erforschung der Nordwestpassage Geschichte gemacht hatte, dient heute mit seiner Jet-Landepiste als Ausgangspunkt für