"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon lang, und jetzt habe ich es vergessen."
"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht."
Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles, alles sagen?"
"Alles, Heidi, alles."
Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
"Kann ich gehen?"
"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum Großvater.—
Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier"—sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden—"
"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?", setzte hier Frau Sesemann ein.
In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur, dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen, und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Möglichkeit vermutete."
"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen."
Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja, nun gehört es dir."
"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
Freude.
"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir an zu lesen."
"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst du erst recht bei mir bleiben."
Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier, wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.
Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen?"