»Bitte, gerne!«
Stasia hätte sagen können:
Ich möchte mit Ihnen nach Paris fahren!
Statt dessen bittet sie mich um eine Postkarte.
»Ich schicke Ihnen den Eiffelturm.«
»Wie Sie wollen!« sagte Stasia, und es bezieht sich gar nicht auf die Ansichtskarte, sondern auf uns selbst.
Das ist unser letztes Gespräch. Ich weiß, es ist unser letztes Gespräch. Gabriel Dan, du hast gar nichts von Mädchen zu erwarten. Arm bist du, Gabriel Dan!
Am nächsten Morgen sehe ich Stasia am Arm Alexanderls die Treppe hinuntergehn. Beide lächeln mir zu – ich esse Frühstück unten. Da weiß ich, daß Stasia eine große Dummheit gemacht hat.
Ich verstehe sie.
Die Frauen begehn ihre Dummheiten nicht wie wir aus Fahrlässigkeit und Leichtsinn, sondern wenn sie sehr unglücklich sind.
Viertes Buch
XXIV
Den Hof liebe ich, in den das Fenster meines Zimmers hinausgeht.
Er erinnert mich an den ersten Tag im Hotel, den Tag meiner Ankunft. Ich sehe immer noch Kinder spielen, höre einen Hund bellen und freue mich, wie bunt und fahnenhaft die Wäsche flattert.
In meinem Zimmer ist die Unrast, seitdem ich die Besucher Bloomfields empfange. Unrast ist im ganzen Hotel, im Korridor und im Fünf-Uhr-Saal, und eine kohlenstaubüberwehte Unrast herrscht in der Stadt.
Wenn ich zum Fenster hinausblicke, sehe ich ein Stück glücklich geretteter Ruhe. Die Hühner schreien. Nur die Hühner.
Es gab im Hotel Savoy einen anderen, einen engen Lichthof, der aussah wie ein Schacht für Selbstmörder. Dort wurden Teppiche geklopft, dorthin schüttete man den Staub, die Zigarettenstummel und den Kehricht des polternden Lebens.
Mein Hof aber war so, als gehöre er gar nicht zum Hotel Savoy. Er barg sich hinter dem riesigen Gemäuer. Ich wüßte gerne, was mit dem Hof geschehn ist.
Auch mit Bloomfield geht es mir so. Wenn ich seiner denke, bin ich neugierig, ob er seine gelbe Hornbrille trägt. Auch wüßte ich gerne etwas von Christoph Kolumbus, dem Friseur. Welche offengelassene Lücke des Lebens füllt er jetzt aus?
Große Ereignisse nehmen manchmal ihren Anfang in Friseurstuben. In dem kleinen Salon des Friseurs Christoph Kolumbus im Hotel Savoy ereignete es sich, daß einer der streikenden Arbeiter Neuners Lärm schlug.
Das Geschäft ging gut. Man hörte in Kolumbus’ Stube am Vormittag allerlei Neues. Die angesehenen Männer der Stadt, sogar der Polizeioffizier, alle fremden und die meisten heimischen Gäste des Hotels ließen sich bei ihm barbieren. Und einmal trat ein Arbeiter, ein bißchen angetrunken, in den Friseurladen und begegnete allen widerwilligen Blicken mit aufreizender Gleichgültigkeit.
Er ließ sich rasieren und bezahlte nicht. Christoph Kolumbus hätte ihn – er war ein großzügiger Mensch – gehen lassen. Doch Ignatz drohte mit der Polizei. Da schlug der Arbeiter auf Ignatz ein. Die Polizei verhaftete den Arbeiter.
Am Nachmittag zogen seine Kameraden vor das Hotel Savoy und riefen: »Pfui!« Dann gingen sie vor das Gefängnis.
Und in der Nacht zogen sie, Lieder singend, durch die erschrockenen Straßen.
In der Zeitung stand fett gedruckt eine Nachricht, sie brannte in der Mitte des Blattes. Ein paar Meilen weiter waren die Arbeiter einer großen Textilfabrik in den Streik getreten. Die Zeitung rief nach Militär, Polizei, Behörde, Gott.
Der Schreiber erklärte, daß alles Unheil von den Heimkehrern stamme, die den »Bazillus der Revolution in das keimfreie Land« verschleppten. Der Schreiber war ein jämmerlicher Mensch, er spritzte Tinte gegen Lawinen, er baute Dämme aus Papier gegen Sturmfluten.
XXV
Es regnet nun schon eine Woche in der Stadt. Die Abende sind klar und kühl, aber bei Tage regnet es.
Es paßt so zum Regen, daß in diesen Tagen die Flut der Heimkehrer sich mit frischer Gewalt heranwälzt.
Mitten durch den schrägen, dünnen Regen gehen sie, Rußland, das große, schüttet sie aus. Sie nehmen kein Ende. Sie kommen alle denselben Weg, in grauen Kleidern, den Staub zerwanderter Jahre auf Gesichtern und Füßen. Es ist, als hingen sie mit dem Regen zusammen. Grau wie er sind sie und beständig wie er.
Sie strömen Grau aus, unendliches Grau über diese graue Stadt. Ihre Blechgeschirre klappern wie der Regen in den Blechrinnen. Ein großes Heimweh geht von ihnen aus, die Sehnsucht vorwärtstreibt und eine verschüttete Erinnerung an Heimat.
Unterwegs sind sie hungrig, sie stehlen oder betteln, und beides ist ihnen gleich. Sie töten Gänse und Hühner und Kälber, es ist Friede in der Welt, aber das bedeutet nur, daß man keine Menschen mehr zu töten braucht. Gänse, Hühner und Kälber aber haben nichts mit dem Frieden zu tun. Wir stehen, Zwonimir und ich, am Rande der Stadt, wo die Baracken sind, und spähen nach vertrauten Gesichtern. Alle sind fremd und alle vertraut. Der sieht wie mein Nachbar in der Schwarmlinie aus, und der hat mit mir Gelenksübungen gelernt.
Wir stehn seitwärts und betrachten sie, aber es ist genauso, als ob wir mit ihnen gingen. Wir sind wie sie, auch uns hat Rußland ausgeschüttet, und wir ziehn alle heim.
Es führt einer einen Hund mit, er trägt das Tier auf dem Arm, und seine Eßschale klappert an seine Hüfte bei jedem Schritt. Ich weiß, daß er den Hund nach Hause bringen wird, seine Heimat liegt im Süden, in Agram oder in Sarajevo, den Hund bringt er treu bis zu seiner Hütte. Seine Frau schläft mit einem andern, den Totgeglaubten erkennen seine Kinder nicht mehr – er ist ein anderer geworden, und der Hund nur kennt ihn, ein Hund, ein Heimatloser.
Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen. Im Felde nicht, wenn wir, von einem unverstandenen Willen getrieben, fremde Männer totmachten, und in der Etappe nicht, wenn wir alle, nach dem Befehl eines bösen Menschen, gleichmäßig Beine und Arme streckten. Heute aber bin ich nicht mehr allein in der Welt, heute bin ich Teil der Heimkehrer.
Sie strichen in Gruppen von fünf oder sechs Mann durch die Stadt, sie zerstreuten sich kurz vor den Baracken. Sie sangen Lieder von den Höfen und Häusern, mit gebrochener, rostiger Stimme, und dennoch waren die Lieder schön, wie manchmal an Märzabenden die Stimme eines schadhaften Leierkastens schön ist.
Sie aßen in der Armenküche. Die Portionen wurden immer kleiner und der Hunger größer.
Die streikenden Arbeiter saßen und vertranken ihre Streikgelder in den Wartesälen des Bahnhofs, und die Frauen und Kinder hungerten.
In der Bar griff der Fabrikant Neuner nach den Brüsten der nackten Mädchen, die vornehmen Frauen der Stadt ließen sich ihre Kopfschmerzen von Xaver Zlotogor wegmagnetisieren. Den Hunger der armen Frauen konnte Xaver Zlotogor nicht wegmagnetisieren.
Seine Kunst war nur für leichte Krankheiten gut, den Hunger konnte er nicht vertreiben und die Unzufriedenheit auch nicht.
Der Fabrikant Neuner hörte nicht auf die Ratschläge Kanners und schob alle Schuld auf Bloomfield.
Was aber ging Bloomfield diese Gegend an, ihr Hunger und ihre Verhältnisse? Sein toter Vater Jechiel