»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, sagt Alexanderl, »ich miete Ihnen ein Zimmer privat oder zahle Ihnen das Logisgeld für zwei Monate – oder wenn Sie unsere Stadt verlassen wollen, das Reisegeld nach Wien, Berlin, Paris sogar –, und Sie treten mir das Zimmer ab. Ist das ein kulantes Geschäft?«
Dieser Ausweg lag sehr nahe, dennoch überraschte mich meines Vetters Angebot. Nun hatte ich alles, was ich mir wünschte. Weiterreise und Zehrgeld, und ich brauchte nicht mehr auf Phöbus Böhlaugs Wohltat zu rechnen und war ein freier Mensch.
Sehr schnell löste sich jede Verwicklung. Meine Wünsche gingen prachtvoll in Erfüllung. Gestern noch hätte ich eine halbe Seele für ein Reisegeld verkauft, und heute bot mir Alexander Freiheit und Geld.
Dennoch schien es mir, daß Alexander Böhlaug zu spät gekommen war. Ich hätte jubeln sollen, ja sagen, und ich tat nichts dergleichen, sondern machte ein nachdenkliches Gesicht.
Alexander bestellte einen Schnaps um den andern. Aber je mehr ich trank, desto wehmütiger wurde ich, und der Gedanke an Weiterreise und Freiheit schwand ins Nichts.
»Sie wollen nicht, lieber Vetter?« sagte Alexander – und um zu beweisen, daß es ihm gleichgültig war, begann er, von der Revolution in Berlin zu erzählen, die er zufällig erlebt hatte.
»Wissen Sie, diese Banditen ziehn zwei Tage herum, man ist nicht sicher, daß man mit dem Leben herauskommt. Ich sitze den ganzen Tag im Hotel, unten bereiten sie für alle Fälle die gemauerten Keller vor, ein paar fremde Diplomaten wohnen auch dort. Ich denke mir, nun ade schönes Leben – dem Krieg bin ich entgangen, nun soll mich die Revolution treffen. Ein Glück, daß ich damals die Vally hatte, wir waren ein paar befreundete junge Leute und nannten sie Vally, die Trösterin, denn sie war unsere Trösterin in der Not, wie es in der Bibel heißt.«
»Das steht nicht in der Bibel.«
»Nun einerlei – diese Knöchel hätten Sie sehen sollen, mein lieber Vetter – und das aufgelöste Haar, es reichte bis zum Popo – es waren sehr aufgeregte Zeiten. Und wozu? Sagen Sie mir, wozu hat man diese aufgeregten Zeiten nötig?«
Alexander saß mit gespreizten Beinen; um die Bügelfalte nicht zu beschädigen, streckte er sie weit von sich und trommelte mit den Absätzen auf dem Boden.
»Ich werde mich also um ein anderes Zimmer umsehn müssen«, sagt Alexander, »wenn Sie nicht wollen.« Oder: »Ich will nicht drängen. Überlegen Sie sich das, lieber Gabriel, bis morgen – vielleicht? …« Gewiß – ich will es mir überlegen. Jetzt habe ich Schnaps getrunken, und das plötzliche Angebot hat mich noch mehr betäubt. Ich will es mir überlegen.
XII
Wir schieden um 11 Uhr vormittags, und ich hatte Zeit genug – einen ganzen Sommernachmittag, einen Abend, eine Nacht.
Dennoch hätte ich gerne noch länger Zeit gehabt, eine Woche, zwei Wochen oder einen Monat. Ja, ich hätte gerne so eine Stadt wie diese zu einem längeren Ferienaufenthalt gewählt – es war eine recht amüsante Stadt, mit allerlei wunderbaren Menschen – man traf derlei nicht in aller Welt.
Da war dieses Hotel Savoy – ein prachtvolles Hotel, mit einem livrierten Portier, mit goldenen Schildern, es versprach Lift, reinliche Stubenmädchen in weiß gestärkten Nonnenhauben. Da war Ignatz, der alte Liftknabe, mit höhnischen, biergelben Augen, aber was tat er mir, wenn ich zahlte und keine Koffer verpfändete? Da war Kaleguropulos, gewiß der Übelsten einer – den kannte ich noch nicht, den kannte niemand.
Dieses einzigen Kaleguropulos wegen hätte es sich gelohnt hierzubleiben – Geheimnisse haben mich immer gelockt, und es ergab sich bei längerem Aufenthalt gewiß Gelegenheit, Kaleguropulos, dem Unsichtbaren, auf die Spur zu kommen.
Gewiß, es war besser zu bleiben.
Da lebte Abel Glanz, ein sonderbarer Souffleur, da konnte man bei Kanner Geld verdienen, im Judenviertel lag Geld im Straßenkot – es wäre nicht übel, als reicher Mann in den Westen Europas einzuziehen. Mit einem Hemd konnte man im Hotel Savoy anlangen und es verlassen als der Gebieter von zwanzig Koffern.
Und immer noch der Gabriel Dan sein.
Aber will ich nicht nach dem Westen? Habe ich nicht lange Jahre in der Gefangenschaft gelebt? Noch sehe ich die gelben Baracken wie schmutzigen Aussatz eine weiße Fläche bedecken, schmecke ich den süßen letzten Zug aus irgendwo aufgeklaubtem Zigarettenstummel, Jahre der Wanderung, Bitterkeit der Landstraße – grausam gefrorene Ackerschollen, die meine Fußsohlen schmerzen.
Was geht mich Stasia an? Es gibt viele Mädchen in der Welt, braunhaarige mit großen, grauen, klugen Augen und schwarzen Wimpern, kleinen Fußsohlen in grauen Strümpfen, man kann Einsamkeiten zusammenlegen, Schmerzen gemeinsam auskosten. Mag Stasia im Varieté bleiben, dem Pariser Alexander anheimfallen.
Fahr zu, Gabriel!
Es fügt sich, daß ich zum Abschied noch einmal durch die Straße streiche, die groteske Architektur der windschiefen Giebel, der fragmentarischen Kamine besehe, zerbrochene und mit Zeitungspapier verklebte Fensterscheiben, arme Gehöfte, das Schlachthaus am Rande der Stadt, die Fabrikschlote am Horizont, Arbeiterbaracken, braune, mit weißen Dächern, Geranientöpfe in Fenstern.
Das Land ringsum ist eine traurige Schönheit, eine verblühende Frau, der Herbst meldet sich allerorten, obwohl die Kastanien noch tiefgrün sind. Man muß zum Herbst woanders sein, in Wien, die Ringstraße sehn, von goldenem Laub übersät, Häuser wie Paläste, Straßen, gerade ausgerichtet und geputzt zum Empfang vornehmer Gäste.
Der Wind kommt aus der Gegend der Fabriken, es riecht nach Steinkohle, grauer Dunst lagert über den Häusern – das Ganze ist wie ein Bahnhof, man muß weiterfahren. Der Pfiff eines Zuges kommt gellend herüber, Menschen fahren in die Welt.
Bloomfield fällt mir ein – wo steckt er eigentlich? Längst müßte er kommen, die Fabrikanten sind aufgeregt, im Savoy ist alles vorbereitet, wo bleibt Bloomfield?
Hirsch Fisch erwartet ihn sehnsüchtig. Vielleicht hat Fisch jetzt Gelegenheit, aus dem ewigen Elend herauszukommen, er hat doch mit Bloomfields Vater gesprochen, der Blumenfeld hieß, Jechiel Blumenfeld.
Ich entsinne mich des Loses, das ich vom Hirsch Fisch bekam, die Zahlen 5, 8 und 3 sind sicher, ein Terno scheint mir gewiß. Wie, wenn das Los gewänne? Dann könnte ich in dieser interessanten Stadt bleiben, noch ein bißchen ausruhen. Ich habe keine Eile. Keine Mutter, kein Weib, kein Kind. Niemand erwartet mich. Niemand sehnt sich nach mir.
Aber ich sehne mich wohl, nach Stasia zum Beispiel. Ich lebte gerne mit ihr ein Jahr oder zwei oder fünf, ich reiste gerne mit ihr nach Paris, wenn ich einen Terno bekäme, knapp, ehe die Regierung die Lotterie abschafft – ich brauchte Alexander nicht mein Zimmer zu verkaufen und nicht bei meinem Onkel Phöbus zu betteln.
Die Ziehung ist nächsten Freitag, es muß eine Woche dauern – so lange kann ich Alexander nicht warten lassen. Bis morgen muß es entschieden sein.
Ich muß von Stasia Abschied nehmen.
Sie war angekleidet, als ich kam, und wollte in die Vorstellung gehn. Sie trug eine gelbe Rose in der Hand und ließ mich riechen.
»Ich habe viele Rosen bekommen – von Alexander Böhlaug.«
Vielleicht wartet sie, daß ich sage: Schicken Sie die Blumen zurück.
Vielleicht würde ich es auch sagen, wenn ich nicht gekommen wäre, um Abschied für immer zu nehmen.
So sagte ich nur:
»Alexander Böhlaug wird mein Zimmer nehmen. Ich verreise.«
Stasia blieb stehn – auf der zweiten Stufe –, wir hatten gerade die Treppe hinuntergehen wollen.