Paul Bernheim setzte sich vor den Kamin. Aber heute beruhigte ihn das Feuer nicht. Er war allein in seinem neuen, knisternden, lackierten Haus, in dem er nicht heimisch wurde, weil er unaufhörlich die Übermacht des Herrn Enders fühlte und die der chemischen Industrie. Wo fühlte er sich denn wohl? Im Geschäft bedrohte ihn Brandeis und zu Hause Enders. Ach! Er hatte es sich zu leicht vorgestellt. Er hatte gedacht, daß er nach fünf Monaten ein angesehenes Mitglied der großen Industrie werden könnte. Aber ein Industrieller Enders war noch vorsichtiger und tückischer als ein Finanzmann Brandeis. Paul hatte das sichere Gefühl, daß er vorläufig ein aufgespartes Werkzeug zwischen beiden war. Man sagte ihm nichts. Man ließ ihn in der Schublade liegen, einen Hammer, mit dem man gelegentlich ein paar Nägel einzuschlagen gedenkt. Das bittere Erlebnis mit Lydia war nicht der einzige Grund seiner Aufregung. Er, Direktor in Brandeis’ Geschäft, hatte erst auf Umwegen erfahren müssen, daß Brandeis im geheimen die Aktien der Transleithanischen Aktiengesellschaft aufzukaufen begonnen hatte. Ferner, und auch das hatte er erlauscht, daß in Albanien sich eine Holzverwertungsgesellschaft unter der Ägide Brandeis’ gebildet hatte. Was wollte Brandeis in Albanien? Man sprach davon, daß er im Verein mit der italienischen Regierung die Eisenbahnstrecken in Albanien auszubauen gedenke und daß er das Material in Rom zu bestellen sich weigere. Die italienische Regierung aber wollte nur unter dieser Bedingung die Konzession für den Eisenbahnbau vermitteln. Allmählich erfuhr Paul Bernheim den Sinn der Reisen, die Brandeis jeden zweiten Monat unternahm. Er fuhr immer wieder nach dem Balkan, aber die Post wurde ihm nach Wien geschickt. Er ist langsam gefährlich geworden, dachte Bernheim. Als er seine stillen Aufkäufe begann, kannte ihn niemand. Man ließ ihn gewähren. Und wollüstig sagte er halblaut in das köstliche Kaminfeuer: »Aber er wird nicht durchkommen, sie werden ihn nicht lassen.« In diesem Augenblick knurrte das Telephon. Irmgard rief an wie jeden Abend. »Wie geht es?« »Wie geht es!« »Alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung!« »Sag ein liebes Wort!« »Irmchen«, brachte er mühsam hervor. Er konnte unmöglich Zärtlichkeiten telephonieren. Irmgard verlangte sie regelmäßig, aber in der gleichen Art, in der sie sich nach Dienstboten, Chauffeuren und Wäsche zu erkundigen liebte. »Weißt du?« »Ja!« »Onkel kauft mir ein Pferd!« »Bravo!« rief Paul mit einem Jubel, den er wie ein Würgen fühlte. »Er will dich sprechen.« Herr Enders begann. Seine Stimme klang sehr fern, weil er niemals in die Muschel sprach, sondern in die Luft. Wenn er das Haus verließ, konnte ein Diener telephonieren und Bakterien in der Muschel hinterlassen. Jeden Monat ließ er die Apparate im ganzen Haus auswechseln. »Lieber Junge«, sagte die ferne Stimme, »hast du was Neues von Brandeis?« »Was soll es denn sein?« »Trans-und Cis-AG. Schlägt in unser Fach. Kunstseide in den Sukzessionsstaaten.« »Möglich!« sagte Paul. »Erkundige dich! Irmgard kommt übermorgen! Pupille!« Das war ein Wort, das Enders vertraulichen Telephongesprächen anzuhängen liebte, eine Art Telephonsiegel.
Paul kehrte zum Kamin zurück. Er wußte genau, daß der Herr Enders jetzt zu Irmgard sagte: »Sei mir nicht bös! Aber dein Mann ist ein reiner Tor!« Diese erahnten Worte vernahm Paul deutlicher als früher die telephonierten. Sollte er jetzt Brandeis aufsuchen? Wozu? Was würde er erfahren? Wenn Lydia aber erzählte? Wie blamabel! Der Ruf eines Gentlemans!
Dieses Wort leitete eine neue Kette von Assoziationen ein. Erinnerungen an die Träume vor der Heirat. Selbständigkeit, Chemie, Beherrschung des Marktes, der Börsen, Geschäfte mit Amerika, Aeroplanfahrten, in zwei Tagen London, Paris, am dritten New York, ein Netz von Macht, gespannt über die ganze Welt, alle Aktien aller deutschen Zeitungen. Zu Hause Gesellschaft, Tennis, Reiten, Boxen. Nicht diese langweiligen Leute, die jetzt kamen. Nicht diese Turnstunden des Morgens nach den Anweisungen des Radios, die Irmgard so liebte, Nein, er war nicht mächtig geworden. Niemand hatte Respekt. Da war sein Junggesellenleben schon vornehmer und freier gewesen. Relativ war Theodor schneller gewachsen.
Paul ging zum Grammophonkasten – auch ein Geschenk des Herrn Enders – und legte die Platte von den fünf Brüdern King aus Wilmington ein. Der Gesang der weichen und tiefen Stimmen vertiefte die Traurigkeit Bernheims bis zu dem gewünschten Grade, in dem sie sich schon in Trost verwandelte. Er setzte sich an den Apparat, um die Kurbel immer wieder aufziehn zu können. Er konnte die Stille des Hauses nicht mehr ertragen. Die Neger mußten singen. Sie sangen die Verlorenheit einer ganzen Rasse und bezogen den fremden, verlorenen Mann in ihre eigene wüste, heiße und schmerzliche Vergangenheit. Mit einem dankbaren und treuen Blick umfaßte Paul das Grammophon. Das einzige von den Geschenken Enders’, das er liebte. Wie gut war ein Grammophon. Zwanzig Jahre früher hatte man sich an ein Klavier setzen müssen. Jetzt brauchte man nur eine Kurbel zu drehen. Auch die Mittel des Trostes machten Fortschritte, und die Technik verbannte durchaus nicht die Sentimentalität.
Er