Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Йозеф Рот
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027210305
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verliebten Mannes endlich in die erträumten Sphären einer »großen Welt« zu gelangen, wurde sie selbst das verliebte Mädchen eines schweigsamen und also gefährlichen, unverständlichen und ewig fernen Gebieters. Sie war eifersüchtig auf diese langen Tage, die Brandeis irgendwo verbrachte, sie wußte nicht, wo. Denn er hatte ihr verboten, ihn während des Tages aufzusuchen. Sie überlegte, ob sie es wagen dürfte, sich bei Paul zu erkundigen. Hatte Brandeis noch andere Frauen? Sie träumte manchmal, daß er mehrere Frauen in mehreren Häusern ebenso eingeschlossen hielt wie sie. Würde er nicht eifersüchtig werden? »Hoffentlich ist Herr Brandeis nicht eifersüchtig!« sagte Paul plötzlich mit dem leisen, zaghaft probierenden Spott, mit dem die beruflichen Verführer von den abwesenden Rivalen zu sprechen pflegen. »Nein!« sagte sie. »Ich wäre es an seiner Stelle!« Lydia war ihm dankbar. Die Frauen glauben einer Versicherung, die sie gerade brauchen. Seit Jahrhunderten verführt man sie mit Lügen und nicht mit Wahrheiten. Niemals hatte sie von Brandeis ein Kompliment gehört. Schnell fragte sie: »Und Ihre Frau?« und bereute es sofort. »Meine Frau?« wiederholte Paul verwundert, als hätte er sie vollkommen vergessen. »Sie müssen mit ihr zusammenkommen!« sagte er. Sie beschloß, Brandeis zu fragen, ob die Frau Bernheim hübsch, klein, zart, groß, blond oder schwarz sei. Sie war wie alle andern erst dann beruhigt, wenn sie neben dem Mann, den sie kannte, auch etwas von der Frau erfuhr, die zu dem Mann gehörte oder wenigstens scheinbar gehörte.

      Sie fuhren langsam in die Stadt zurück, weil der Abend kühl wurde. »Tanzen Sie?« fragte Paul, denn er dachte an die auffälligste Möglichkeit, dem Körper dieser Frau nahe zu kommen. »Oh«, sagte sie harmlos und ohne die Folgen abzuschätzen, »seit dem Grünen Schwan nicht mehr!« »Wieso Grüner Schwan?« »Es ist ein Kabarett.« »Und?« fragte Paul. »Ich habe dort gespielt!« Seine Überraschung war grenzenlos. Sie wäre kaum größer gewesen, wenn man ihm etwa gesagt hätte, daß seine Frau nicht eine geborene Enders sei. Nichts bekümmert einen Menschen wie Bernheim mehr als die Erfahrung, daß er nicht mit einer Fürstin, sondern mit einer Schauspielerin im Wagen sitzt. »Oh!« sagte er. Und wie er einmal auf dem Maskenball plötzlich die Fähigkeit verloren hatte, die intimen Berührungen an Fräulein Irmgard Enders fortzusetzen, so verlor er hier umgekehrt die andere Fähigkeit, distanziert zu bleiben. Mechanisch drängte sein Bein an das Knie seiner Begleiterin. Er vergaß zu sprechen. Er hielt an, und ohne ein Wort zu sagen, versuchte er, den Arm um Lydia zu legen.

      Sie begriff, welchen Sinn seine Bewegung hatte, und eine Sekunde später auch, aus welchen Ursachen sie kam. Sie fühlte die gleiche stumme, verzweifelte Scham wie damals, als Grischa sie Brandeis verkauft hatte. Aber heute gelang ihr nicht einmal ein Schrei mehr. Es war, als hätte ihr Herz schon die Gewohnheit, Beschämungen leise zu dulden. Es war kein neuer, erstmaliger Schimpf mehr, den sie erlitt, sondern ein wiederholter, die Erinnerung an jenen ersten. Nicht aus Verzweiflung, sondern eher aus einem instinktiven Bedürfnis, sich zu verteidigen, brach sie in ein leises Schluchzen aus. Die Tränen sind die einzige Waffe der Wehrlosen.

      Es dauerte ein paar lange Minuten, bevor Paul Bernheim begriff, daß er Lydia beleidigt hatte. Wie seine Mutter imstande war, in einem Staatsbeamten eine andere Qualität von Ehrgefühl zu vermuten als etwa in einem Hauslehrer, so gestattete ihr Sohn Paul einer Schauspielerin nicht, sich ebenso beleidigt zu fühlen wie eine Fürstin aus dem Kaukasus oder gar eine geborene Enders aus dem Rheinland. Aber konnte der Zufall seiner Mutter gelegentlich nicht recht geben, so zeugte seine Anschauung von seiner verschiedenen Klassenehre der Frauen von einer besonderen Ahnungslosigkeit, von jener, die er mit allen seinen Kollegen, den Verführern, teilen durfte. Denn nichts ist so unabhängig vom Stand, von der Klasse, von der Familie, von der Beschäftigung und von der Erziehung wie der Ehrbegriff der Frauen. Es sind die gleichen Gelegenheiten, bei denen sich Prinzessinnen wie Prostituierte beleidigt und geschmeichelt fühlen. In dem Augenblick, in dem Paul begriff, warum seine Begleiterin weinte, tat es ihm leid, denn er war gutmütig, und er beklagte außerdem eine »verpatzte Gelegenheit« – wie man im Jargon der Männer aus dem gehobenen Stand zu sagen pflegt. Er hielt an. Ohne ihn anzusehn, das Gesicht gesenkt, verließ Lydia den Wagen. Sie ging geradeaus, sie sah nicht auf den Weg. Er stieg ab und ging ihr nach. Er sagte etwas, aber sie hörte ihn nicht. Die Scham erfüllte sie mit einem betäubenden Brausen. Endlich sah er ein, daß nichts mehr zu retten war. Und seine Sorge wandte sich wieder seinem Packard zu, den er mitten auf der Landstraße stehengelassen hatte. Er kehrte um, lenkte langsam in einen Seitenweg und blieb mit dem erschütternden Gefühl zurück, eine Niederlage erlitten zu haben.

      Die Sentimentalität ist eine Schwester der Grobheit. Und nichts ist selbstverständlicher als die Tatsache, daß Paul Bernheim auf dem ganzen Heimweg verliebt und wehmütig an Lydia dachte. Sie erschien ihm begehrenswerter als früher, kostbarer in dem Grade, in dem sie ihm endgültig verloren war.

      Zu Hause fiel sein erster Blick auf die große Photographie seiner Frau. Er fand Irmgard langweilig, spröde, grobknochig. Der Sport hatte seiner Meinung nach ihre Muskeln männlich gemacht, ihre Schultern um zwei Zentimeter zuviel geweitet, ihre Hände waren stark, groß und trocken. Lydia war zart, schmiegsam, und ihre Haut mochte eine gelblich getönte Glätte haben, ihre Brüste dunkelbraune Monde. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.

      Lydia wartete lange auf Brandeis. Er kam spät, gegen Mitternacht. Er sah ihre roten Augen, fragte nicht und ging wieder fort.

      Es war eine der Nächte, die er in einem gleichgültigen Hotelzimmer zu verschlafen gedachte.

      XVIII

       Inhaltsverzeichnis

      Alle Landstraßen der Welt sehen einander ähnlich. Alle Bürger der ganzen Welt sehen einander ähnlich. Die Söhne sehen ihren Vätern ähnlich. Und wer zu dieser Erkenntnis gelangt ist, könnte verzweifeln an der Aussichtslosigkeit, jemals irgendeine Veränderung zu erleben: Ja, sosehr sich die Moden ändern, die Staatsformen, der Stil und der Geschmack, so deutlich sind die alten, ewigen Gesetze in allen Formen zu erkennen, die Gesetze, nach denen die Reichen Häuser bauen und die Armen Hütten, die Reichen Kleider tragen und die Armen Lumpen, und auch jene Gesetze, nach denen die Reichen wie die Armen lieben, geboren werden, krank werden und sterben, beten und hoffen, verzweifeln und verdorren.

      Wir gehen dazu über, das Haus des aufgestiegenen Paul Bernheim kennenzulernen, und es ist nicht unwichtig, sich an das Haus seines Vaters zu erinnern. Der alte Bernheim hatte die Bäume und die Mauer umlegen lassen, und der junge ließ eine Mauer errichten und in die jungfräuliche Erde seines Geländes alte, ausgewachsene Bäume einpflanzen. In seinem Garten standen keine Zwerge mehr. Aber die Fabrik, Grützer und Compagnie erzeugte auch keine Zwerge mehr, sondern, aus dünnem, milchigem und hohlem Porzellan weibliche Figuren von einem gewissen stachligen Charakter. Ihre Gliedmaßen erinnerten an die Form von Fichtennadeln. Ihre Brüste waren kleine Pyramiden, ihre Bäuchlein Parallelogramme, ihre Ellbogen Lanzenschäfte und ihre dreimal geknickten Knie gemahnten an die medizinischen Modelle, welche die Folgen der Rachitis anschaulich machen.

      Dieser Figuren ein halbes Dutzend sah man in Bernheims Vorzimmer. Sie gehörten zu den Geschenken des Herrn Carl Enders und zeugten von seinem modernen Geschmack, oder genauer: von der Mühe, die er sich gab, einen modernen Geschmack zu beweisen. Ohne Zweifel hätten ihm jene Zwerge aus Ton besser gefallen, die im Garten des alten Bernheimschen Hauses standen. Aber er wäre bereit gewesen, sie mitleidig zu verachten. Wenn Carl Enders in die Lage geriet, ein Bild zu kaufen, so achtete er darauf, daß es seinem Verstand und seinen Sinnen widerspreche. Dann war er sicher, ein modernes und wertvolles Kunstwerk gekauft zu haben. Eine lange Übung hatte ihn dazu gebracht, daß seine Wertschätzung automatisch anfing, wo ein Gegenstand sein Mißfallen erregte, und daß er ein empörtes Mißtrauen allem entgegenbrachte, was ihm gefiel. Dieser Methode verdankte er den Ruf, einen »unfehlbaren Geschmack« zu besitzen, und also fuhr er fort, seinem echten Geschmack zuwiderzuhandeln. Ihm verdankte Paul die Anlage seiner Villa, die Einrichtung und die Kunstgegenstände. Das Haus sah einem Schiff ohne Kiel ähnlich. Nur die Fenster, die lang waren und bis zum Boden reichten, so daß man sie als Türen hätte benutzen können, erinnerten den Betrachter, daß es ein Wohnhaus war. Im übrigen war es weiß gestrichen und segelte im Stehen dahin. Ein halbrunder Vorsprung, in dessen Innerem man im Sommer das Frühstück