»Mr. de la Monte, Sie besitzen eine umfassende Kenntnis des Verbrechens.«
Der Doktor lehnte sich vor und faltete seine Hände über dem Knie.
»Ich habe ein Buch darüber geschrieben, aber das besagt noch nicht unbedingt, daß ich große Kenntnisse besitzen muß«, erwiderte Manfred.
»Das habe ich befürchtet«, entgegnete der andere barsch. »Ich war auch besorgt, daß Sie vielleicht nicht Englisch sprächen. Nun möchte ich eine offene Frage an Sie richten, und ich erwarte von Ihnen eine ebenso offene Antwort.«
»Soweit ich dazu imstande bin, will ich sie Ihnen gerne geben.«
Das Gesicht des Arztes zuckte nervös.
»Haben Sie jemals etwas von den ›Vier Gerechten‹ gehört?«
Es trat eine kurze Pause ein.
»Ja, ich habe von ihnen gehört.«
»Sind sie in Spanien?« fragte der Doktor mit schriller Stimme.
»Das weiß ich nicht genau. Warum fragen Sie?«
»Weil ich…« Der Arzt zögerte. »Nun, ich interessiere mich für die Leute. Man sagt, daß sie Verbrechen aufspüren, die die Gerichte nicht bestrafen. Sie… sie… töten ihre Opfer auch – wie?«
Seine Stimme war noch schärfer geworden, und er kniff die Augenlider so weit zusammen, daß er nur noch durch Schlitze zu sehen schien.
»Es ist bekannt, daß eine solche Organisation besteht«, antwortete Manfred, »und man weiß auch, daß die ›Vier Gerechten‹ sich mit ungesühnten Verbrechen beschäftigen – und daß sie Strafen verhängen.«
»Auch – die Todesstrafe?«
»Sie wenden auch die Todesstrafe an«, erwiderte Manfred ernst.
»Und dabei laufen sie frei herum?« Dr. Essley sprang erregt auf und gestikulierte heftig mit den Händen. »Sie laufen frei herum und werden nicht bestraft? Bei allen modernen Methoden der Polizei kann man sie nicht fassen? Sie wagen es, sich selbst zu Richtern aufzuwerfen und andere Leute zu verurteilen? Wer hat ihnen das Recht dazu gegeben? Es gibt doch noch Gesetze, und wenn sich jemand gegen sie vergeht –«
Er hielt plötzlich inne, zuckte die Schultern und sank schwer in seinen Sessel zurück.
»Soweit ich erfahren habe«, fuhr er nach einer Weile fort, »bilden sie keine Macht mehr. Sie sind in allen Ländern geächtet – alle Polizeibehörden haben Steckbriefe gegen sie erlassen.«
Manfred nickte.
»Das stimmt«, sagte er höflich, »aber ob sie keine Macht mehr haben, das kann nur die Zeit lehren.«
»Es sind drei.« Der Doktor schaute bei diesen Worten schnell auf. »Für gewöhnlich finden sie noch einen vierten – einen Mann, der großen Einfluß hat.«
Manfred nickte wieder.
»Das habe ich auch gehört.«
Dr. Essley rückte unruhig in seinem Sessel hin und her. Man sah deutlich, daß er nicht die gewünschte Auskunft oder Versicherung erhalten hatte und nun stark beunruhigt war.
»Und sie sind in Spanien?« fragte er.
»Man sagt es.«
»Sie sind nicht in Frankreich, nicht in Italien, nicht in Deutschland, in keinem der skandinavischen Länder«, rief Dr. Essley. »Sie müssen in Spanien sein.«
Eine Weile brütete er schweigend vor sich hin.
»Verzeihen Sie«, sagte Poiccart, der bis dahin still zugehört hatte, »Sie scheinen sich außerordentlich für die ›Vier Gerechten‹ zu interessieren. Nehmen Sie bitte meine Frage nicht übel – warum liegt Ihnen soviel daran, ihren Aufenthaltsort zu erfahren?«
»Es ist reine Neugierde«, erwiderte der Arzt schnell. »In gewisser Beziehung studiere ich nämlich auch das Verbrechen – wie Mr. de la Monte.«
»Da sind Sie aber ein erstaunlich eifriger Student«, meinte Manfred.
»Ich hatte gehofft, daß Sie in der Lage sein würden, mir zu helfen«, fuhr Essley fort, ohne Manfreds anzügliche Bemerkung zu beachten. »Aber ich habe nur von Ihnen erfahren, daß die ›Vier Gerechten‹ in Spanien sind, und auch das ist weiter nichts als eine Vermutung.«
»Vielleicht sind sie auch gar nicht in Spanien«, sagte Manfred, als er seinen Besucher zur Tür begleitete. »Vielleicht existieren sie nicht einmal. Ihre Furcht ist wahrscheinlich völlig unbegründet.«
Der Doktor fuhr herum. Er war kreidebleich geworden.
»Furcht?« Essley atmete schnell. »Sagten Sie etwas von Furcht?«
»Es tut mir leid«, antwortete Manfred lachend, »vielleicht kann ich mich englisch nicht so korrekt ausdrücken.«
»Warum sollte ich sie denn fürchten?« fragte der Doktor gereizt. »Ihre Worte waren wirklich unglücklich gewählt. Ich brauche mich weder vor den ›Vier Gerechten‹ noch vor sonst jemand zu fürchten.«
Er stand keuchend in der offenen Tür. Mit sichtlicher Anstrengung riß er sich zusammen; er zögerte noch einen Augenblick und verabschiedete sich dann mit einer steifen Verbeugung.
Er ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und eilte zu seinem Hotel hinüber. An der Ecke stand ein Bettler, der müde die Hand hob.
»Um Gottes und der Heiligen willen«, wimmerte er.
Fluchend schlug Essley mit seinem Stock nach der Hand, traf sie aber nicht, denn der Bettler war außergewöhnlich schnell. Gonsalez war zwar bereit, alle mögliche Unbill auf sich zu nehmen, aber Narben und Striemen wünschte er keinesfalls an seinen zarten Händen zu haben.
*
Als Essley in seinem Zimmer angekommen war, schloß er die Tür ab und ließ sich in einen Sessel fallen, um nachzudenken. Er verwünschte seine eigene Torheit – es war ein wahnsinniger Fehler, die Fassung zu verlieren, selbst in Gegenwart eines so unbedeutenden Menschen wie dieses spanischen Dilettanten, der etwas von Kriminalwissenschaft verstehen wollte.
Der erste Teil seiner Aufgabe war beendet – er mußte sich eingestehen, daß er keinen Erfolg gehabt hatte. Aus der Tasche seines Mantels nahm er einen Reiseführer für Spanien und blätterte darin, bis er den Stadtplan von Cordova fand. An der gleichen Stelle lag noch ein anderer Plan in dem Band; er war anscheinend von jemand gezeichnet worden, der besser mit der Örtlichkeit selbst als mit der Kunst des Kartenzeichnens vertraut war.
Von Dr. Cajalos hatte er zum erstenmal durch einen spanischen Anarchisten gehört, den er auf seinen merkwürdigen nächtlichen Streifzügen durch London getroffen hatte. Nachdem er mit dem Mann eine Flasche Wein getrunken hatte, erzählte dieser von den ans Wunderbare grenzenden Kräften des Hexenmeisters von Cordova und erwähnte dabei Dinge, die das lebhafteste Interesse des Arztes fanden. Er hatte daraufhin einen Briefwechsel mit Dr. Cajalos begonnen, und nun war er hier, um ihn persönlich aufzusuchen.
Essley schaute auf die Uhr. Es war beinahe sieben. Er wollte erst zu Abend speisen und sich dann umziehen. Schnell wusch er sich, doch drehte er trotz der hereinbrechenden Dunkelheit das Licht nicht an. Dann ging er in den Speisesaal.
Er saß an einem Tisch für sich allein und vertiefte sich sofort in eine englische Zeitschrift, die er mitgebracht hatte. Ab und zu machte er bei der Lektüre Notizen in ein kleines Buch, das neben seinem Teller lag. Seine Aufzeichnungen standen aber weder in Beziehung zu dem Artikel, den er las, noch zu den medizinischen Wissenschaften; sie handelten vielmehr von der finanziellen Seite eines Plans, der ihm eben in den Sinn kam.
Nach dem Essen bestellte er noch Kaffee. Dann erhob er sich, steckte das kleine Notizbuch in die Tasche, nahm die Zeitschrift und ging auf sein Zimmer zurück. Dort drehte er das Licht an und zog die Vorhänge zu. Er stellte einen kleinen Tisch unter die Lampe und holte aus