»Mr. Bell hat ihm heute freigegeben – wo glauben Sie wohl, daß man ihn finden könnte?«
»Meinen Sie jetzt gleich?« fragte Cole erstaunt.
»Noch heute Nacht, ja.«
»Wahrscheinlich ist er zu seiner Schwester gefahren; sie ist die einzige Verwandte, die er in London hat.«
»Wo wohnt sie?«
»In Dalston, Sir. Ich kenne das Haus.«
Gold hatte seinen Plan bereits gemacht.
»Nehmen Sie ein Taxi, fahren Sie hin und bringen Sie Parker hierher. Wie Sie ihn überreden, ist mir gleichgültig – aber bringen Sie ihn her.
Es wäre gut, wenn ich die Angelegenheit möglichst bald regeln könnte«, murmelte Gold vor sich hin, als Cole gegangen war. »Morgen wird die ganze Geschichte in allen Zeitungen stehen …«
Er setzte sich in einen Sessel und versuchte zu lesen, aber immer wieder sah er das schreckensbleiche Gesicht Veritys hinter der Fensterscheibe vor sich. Er warf sein Buch in eine Ecke und ging ruhelos im Zimmer auf und ab.
Endlich hörte er die Haustür zuschlagen, und gleich darauf stand Parker vor ihm.
»Sie haben doch einen Schlüssel von Mr. Bells Haus?« fragte Gold sofort, nachdem er ihn begrüßt hatte.
»Ja, Sir.«
»Dann kommen Sie bitte gleich mit mir in das Haus Mr. Bells.«
»Ist etwas passiert?« fragte Parker bestürzt.
»Nichts – hm, nichts von Bedeutung«, entgegnete Gold ungeduldig. Er hielt es nicht für richtig, den Mann ins Vertrauen zu ziehen.
In einem Taxi fuhren sie zum Cadogan Square. Es war schon lange nach Mitternacht, der Platz lag einsam und verlassen da. Parker öffnete die Haustür.
»Einen Augenblick, Sir«, sagte er und knipste das Licht an.
»Gehen Sie zuerst nach oben und klopfen Sie an die Tür Mr. Bells – sehen Sie nach, ob er zu Hause ist.«
»Aber, Sir …«
»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, knurrte Gold in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Parker gehorchte und eilte die Treppe hinauf. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück.
»Waren Sie im Zimmer von Mr. Bell?«
»Jawohl, Sir, es war niemand dort.«
»Was ist das hier für ein Raum?« fragte Gold und zeigte auf eine Tür.
»Das Wohnzimmer, Sir.«
»Bitte öffnen Sie es.«
Die Tür war nicht verschlossen.
»Das ist merkwürdig«, murmelte Parker. »Ich weiß bestimmt, daß die Tür verschlossen war, als ich das Haus verließ.«
»Hat außer Ihnen noch jemand einen Schlüssel?«
»Soviel ich weiß nur Mr. Bell.«
Gold öffnete die Tür, trat ein und drehte das elektrische Licht an. Das Zimmer war leer.
Der Beamte atmete tief und zog die Luft durch die Nase ein.
»Riechen Sie nichts, Parker?«
»Ja, es riecht ganz merkwürdig.«
Ein schwerer Veilchenduft lag in der Luft.
Gold prüfte den Raum eingehend. Die Möbel standen an der gewohnten Stelle und auch sonst schien alles in Ordnung zu sein. Nur auf der Fensterbank entdeckte er einen kleinen, flachen Gegenstand. Er nahm ihn und steckte ihn in die Tasche. Es war einer der Umschläge, die man von den Reisebüros zusammen mit den Fahrkarten bekommt. Offensichtlich hatte Comstock Bell seine Reise nach Wien bei Cook gebucht.
Die Durchsuchung des übrigen Hauses brachte keinen Erfolg. Das ganze Gebäude war leer, und Mrs. Comstock Bell war spurlos verschwunden.
»Ich glaube, das genügt, Parker«, sagte Gold, als er fertig war.
»Es ist doch nicht eingebrochen worden?« fragte Parker. ängstlich.
Gold schüttelte nur den Kopf, verabschiedete sich und fuhr zu seiner Wohnung zurück. Seine Hoffnung, daß Verity während seiner Abwesenheit vielleicht dagewesen wäre, erfüllte sich aber nicht.
Nur ein Telegramm und ein Eilbrief warteten auf ihn. Es war jedoch keine Nachricht von Comstock Bell. Der Brief kam von Scotland Yard und enthielt nur die kurze Mitteilung:
»Wir haben Willetts heute abend um elf Uhr verhaftet.«
Gold nickte. Er hatte Scotland Yard gebeten, ihn über alles, was Willetts betraf, auf dem laufenden zu halten.
Das Telegramm aber war von seinem unmittelbaren Vorgesetzten in Washington und enthielt die folgende Aufforderung:
»Sofort nach Washington kommen – Aussprache notwendig – reisen Sie mit der ›Turanic‹.«
Gold fluchte leise, als er erfuhr, daß die ›Turanic‹ schon am nächsten Tag abdampfte. Er verbrachte die Nacht mit Packen und verließ London morgens um sechs Uhr.
Helder hörte im Klub von der Verhaftung; einer seiner Agenten teilte ihm die Neuigkeit telefonisch mit. Er ging ins Lesezimmer, setzte sich in einen Sessel und dachte gerade über die Ereignisse des Abends nach, als ihm ein Telegramm überreicht wurde, das zwei Stunden zuvor in New York aufgegeben worden war. Er öffnete den Umschlag und las:
»Dringend. Kommen Sie mit der ›Turanic‹ nach New York.«
Das Telegramm stammte von einem Mann, dessen Aufforderung Helder unter allen Umständen nachkommen mußte. Er eilte nach Hause und traf seine Vorbereitungen. Und am nächsten Morgen begegnete Gold auf dem Euston-Bahnhof dem Mann, den er jetzt am wenigsten zu sehen wünschte. Die beiden fuhren zusammen über den Atlantik, ohne auf der ganzen Reise ein Wort miteinander zu sprechen.
Während Gold und Helder in Amerika ihren Geschäften nachgingen, fragte man sich in London: Wo sind die Comstock Bells geblieben?
Das ›Post Journal‹ brachte diese Frage fettgedruckt als Überschrift eines Artikels, und natürlich machte die Zeitung aus der ganzen Sache eine Sensation. Sie erging sich in geheimnisvollen Vermutungen, die darin gipfelten, daß das Ehepaar heimlich nach London zurückgekehrt sei, um dort seine Flitterwochen zu verleben. Schließlich hatten ja Reporter das junge Paar überall auf dem Kontinent ohne den geringsten Erfolg gesucht. Und hatte nicht Jackson Mrs. Verity Bell in ihrem Haus gesehen?
Die Konkurrenzblätter des ›Post Journal‹ gaben natürlich ihrer Ansicht Ausdruck, daß Mr. Jackson sich getäuscht hätte oder daß die Geschichte überhaupt erfunden worden wäre, um die Auflagenhöhe zu steigern. Daraufhin versuchte Jackson die beiden Männer wiederzufinden, die mit ihm zusammen Verity Bell gesehen hatten; aber er konnte nur feststellen, daß sie sich nicht mehr in London aufhielten.
Am sechsten Tag nach dem Erscheinen der aufsehenerregenden Story traf in der Redaktion des ›Post Journal‹ ein Brief ein, der in Luzern aufgegeben worden war. Er war mit Maschine auf einem Briefbogen des Swizerhof-Hotels getippt und lautete:
»Sehr geehrte Herren,
wir haben mit großem Interesse, aber auch mit großer Verwunderung die Ausführungen Ihres Berichterstatters gelesen, der sich den Kopf darüber zerbricht, wo wir unsere Flitterwochen verbringen – obwohl wir eigentlich nicht ganz verstehen können, warum sich die Öffentlichkeit so mit unseren Privatangelegenheiten beschäftigt.
Sehr dankbar wären wir Ihnen, wenn Sie uns in Zukunft nicht mehr mit solchen Veröffentlichungen belästigen würden. Als Privatpersonen legen wir Wert darauf, in Ruhe gelassen zu werden, und erwarten, daß Sie dies unseren vielen Freunden in London bekanntgeben. Wenn Sie schon so sehr um unser Wohlergehen besorgt sind, dann bitten wir