»Wir bleiben zuerst ein wenig in Paris«, erklärte Comstock Bell, »von dort aus fahren wir nach München, später nach Wien und vielleicht auch noch nach Rom. Weitere Pläne habe ich vorerst keine.«
»Unangenehm für Sie, daß Ihre Hand noch verbunden ist«, meinte Gold und deutete auf den Verband.
Comstock Bell lächelte.
»Tatsächlich, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Ich habe mich jetzt schon daran gewöhnt, mit der linken Hand auf der Schreibmaschine zu schreiben, daß ich mich in Zukunft wahrscheinlich nie wieder entschließen kann, Briefe handschriftlich abzufassen.«
»Nehmen Sie Ihre Schreibmaschine mit?« fragte Gold.
»Selbstverständlich. Ich habe mir bereits eine Reiseschreibmaschine mit Spezial-Tastatur anfertigen lassen.«
»Nun, Ihre Gattin wird Ihnen vermutlich als Sekretärin ganz gute Dienste leisten können.«
»Da wird nicht viel daraus werden. Die Tastatur der Maschine ist ziemlich kompliziert.«
Die Unterhaltung stockte, und Bell winkte dem Kellner.
»Bringen Sie mir bitte ein Telegrammformular.«
Einige Minuten später lagen eine Schreibunterlage und ein Formular vor ihm.
»Soll ich es für Sie schreiben?« fragte Gold.
»Sehr freundlich, aber ich komme schon zurecht«, erwiderte Comstock Bell ein wenig verlegen. Umständlich malte er mit der linken Hand die Buchstaben. Das Telegramm war an Captain Lauder in Landview Cottage, Gravesend, gerichtet und bestand nur aus dem einzigen Wort: »Vorwärts!«
Auch Gold hätte gar zu gerne den Inhalt des Telegramms gekannt, das Bell ausgerechnet an seinem Hochzeitsmorgen abschickte. So sehr er sich den Hals verrenkte, Bell hielt das Formular so, daß er nichts lesen konnte. Als Bell fertig war, steckte er das Telegramm in ein Kuvert und gab es zusammen mit einem Fünfshillingstück dem Kellner.
»Lassen Sie dies sofort zur Post bringen, und geben Sie mir dann die Rechnung.«
Gleich darauf brachen sie auf. Sie hatten sich entschlossen, die kurze Entfernung bis zum Standesamt und anschließend zur Kirche zu Fuß zurückzulegen.
Mit Ausnahme des Kirchendieners und des Küsters war niemand in der Kirche. Ihre Schritte hallten hohl wider, als sie den breiten Mittelgang entlangschritten und vor dem Altar auf den Geistlichen warteten. Dumpf drang das Summen und der Lärm der erwachenden Großstadt durch die Mauern. Hätte Comstock Bell jemals früher an eine künftige Trauung gedacht – so hätte er sie sich bestimmt nicht vorgestellt. Auch Verity, die sich dem bedeutungsvollsten Ereignis ihres Lebens gegenübersah, war wie betäubt von der Unwahrscheinlichkeit der Situation.
Der Geistliche trat aus der Sakristei und näherte sich ihnen langsam. Feierlich sprach er die Worte, die sie fürs Leben verbanden. Die bekannten Fragen und Antworten hallten seltsam durch den hohen, leeren Raum. Ein schmaler Goldreif wurde Verity auf den Finger gestreift.
Alle zusammen gingen sie dann in die Sakristei, um ihre Unterschriften unter das Heiratsprotokoll zu setzen. Der Geistliche meinte, daß es ein schöner Tag sei und daß er hoffe, dieses Jahr endlich wieder einmal einen richtigen englischen Sommer zu erleben. Comstock erwiderte einige konventionelle Worte. Gold zahlte die Kirchengebühren und vergaß auch nicht, dem Kirchendiener, der obendrein noch den zweiten Trauzeugen gemacht hatte, ein respektables Trinkgeld zu geben. Dann trat das junge Paar als, Mr. und Mrs. Comstock Bell in das grelle Sonnenlicht des Frühlingstages hinaus.
Bell schaute auf die Uhr.
»Wir haben noch eine Stunde Zeit«, sagte er. »Dein Gepäck hast du doch schon auf den Bahnhof bringen lassen?«
Sie nickte.
Er lächelte sie freundlich an.
»Ich werde dich von jetzt ab Verity nennen, ja?«
»Das ist lieb von dir«, entgegnete sie leise.
Wentworth Gold, der zugehört hatte, schüttelte heimlich den Kopf. Auch ihm kam diese merkwürdige Stimmung des Unwirklichen, die über der ganzen Zeremonie gelegen hatte, immer mehr zum Bewußtsein.
Was sollte das Ganze nur bedeuten, fragte er sich schon zum hundertstenmal. Der Mann ein Millionär, das Mädchen arm wie eine Kirchenmaus – aber das wäre ja gar nicht so außergewöhnlich gewesen. Viel seltsamer war es, daß sie miteinander sprachen, als ob sie sich eben erst vorgestellt worden wären; nicht anders, als ob sie nur die Bande einer oberflächlichen Bekanntschaft zusammenhielten.
Wie lange kannte Bell überhaupt seine Frau schon?
Plötzlich kam ihm ein merkwürdiger Gedanke – er wußte doch, daß Verity verhältnismäßig wenig persönlichen Besitz hatte, wie stand es denn dann mit ihrer Aussteuer? Bells nächste Worte verschafften ihm Klarheit.
»Du kannst alles, was du brauchst, in Paris kaufen.«
»Ich stelle keine großen Ansprüche«, entgegnete sie schüchtern.
Comstock Bell schaute wieder auf die Uhr und sah Verity lächelnd an.
»Für die nächste Stunde haben wir nichts zu tun«, sagte er. »Ich schlage vor, wir machen noch einen Spaziergang durch den Park. Begleiten Sie uns doch bitte, Gold.«
Wentworth Gold verkehrte zwar nicht sehr viel in der Gesellschaft und wußte über Trauungen auch herzlich wenig Bescheid, aber soviel war ihm doch klar, daß er sich jetzt zu verabschieden hatte und das glückliche Paar sich selbst überlassen mußte. Er hatte sich als Entschuldigung auch schon eine Verabredung zurechtgelegt, als Bell ihm zuvorkam.
»Falls Sie noch eine Stunde Zeit haben, würde es uns sehr freuen, wenn Sie uns dann zum Zug bringen – nicht wahr, Verity?«
Mit einem Taxi fuhren sie zum Regents Park. Sie spazierten die wunderschönen Wege entlang und sprachen über alles mögliche, nur nicht über die nächsten Pläne Comstock Bells. Als die Zeit immer weiter vorrückte, wurde Bell immer unruhiger und zerstreuter – plötzlich wandte er sich unvermittelt an Gold.
»Vermutlich hat Ihnen Helder gesagt, daß ich Willetts angezeigt habe, wie?«
Gold war verblüfft. Er konnte sich nicht erklären, woher Bell dies wüßte.
»Ja er hat mir so etwas Ähnliches mitgeteilt«, gab er zu. »Aber ich habe noch nie viel von dem gehalten, was Helder mir erzählte.«
»In diesem Falle hatte er aber recht«, entgegnete Bell ruhig, »Ich habe Willetts angezeigt und habe auch allen Grund dafür.«
»Ist er schon verhaftet worden?«
»Noch nicht. Ich habe es so eingerichtet, daß er erst dann festgenommen wird, wenn ich England verlassen habe.«
Gold war mehr als erstaunt. Wie sollte er diese Handlungsweise mit dem sonst so vornehmen Charakter und Benehmen Bells in Einklang bringen? Er hatte ihn immer seiner Anständigkeit wegen geschätzt und fühlte sich jetzt fast ein wenig abgestoßen. Jemanden verhaften zu lassen und sich selbst allen möglichen Unannehmlichkeiten, die diese Verhaftung mit sich bringen konnte, durch die Abreise zu entziehen, war wenig schön.
»Ich freue mich, daß Sie mir das gesagt haben«, entgegnete er kühl.
Comstock sah ihn ernst an. Er fühlte, daß Gold sein Verhalten durchaus nicht billigte.
»Denken Sie nicht zu schlecht über mich!«
Wortlos machten sie sich dann auf den Weg zur Victoria Station. Ein Abteil erster Klasse war für das junge Paar reserviert.
Mit oberflächlichem Geplauder verstrichen die letzten Minuten bis zur Abfahrt. Der Zug setzte sich in Bewegung.
»Auf Wiedersehen!!« sagte Gold und reichte Bell zum Abschied die Hand.
Bell