Ein Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) wäre im Bereich des Verstandes hingegen nicht zu fassen oder nur als Widerspruch aussagbar, weil jede Koinzidenz die Grenzen der auf Kontradiktionsvermeidung festgelegten Ratio überschreitet. Für den Verstand (ratio) bleibt die Aufgabe, in gegensätzlich bestimmten Dichotomien und Disjunktionen zu verfahren und dabei dem operational-technischen Charakter der rationalen Axiomatik zu folgen. Dem Verstand wird bei Cusanus seine eigene Region und Kompetenz bzw. ein eigenes Ressort bezüglich seiner Verfügbarkeit zugebilligt, außerhalb dessen seine Bestimmungen und Einteilungen jedoch ihre Tragfähigkeit verlieren. Der Verstand und sein ihm eigenes Ressort verfügen über all die Leistungen und Instrumente, die zur Unterscheidung zwischen Identität und Nicht-Identität erforderlich sind, er besitzt als Ratio demnach Gewalt über alles, was die wissenschaftliche Vermeidung von Widersprüchen als contradictio falsi zu beherzigen hat. Der Verstand sichert somit die Kontradiktionsvermeidung ab, wozu ihm die formale Logik mit ihren binären Unterscheidungen als präzises Instrument zur Verfügung steht. Ein Widerspruch wird auf dieser Ebene der Ratio entlarvt, womit der Verstand seine Funktion erfüllt und der rationalen Ebene der Wissenschaft seine darin unüberbietbare, wenn auch statisch fixierte Kompetenz zur Verfügung gestellt wird.
Auf der Ebene der Vernunft (intellectus) hingegen begreift der dynamische Geist die oppositionell entäußerten Verstandesinhalte der Ratio, auf deren Bedingungen und Voraussetzungen die Vernunft reflektieren kann. Intellectualiter lassen sich die Begrenzungen der Ratio via reflexionis aufheben, indem die Vernunft die Regeln und Muster des Verstandes als dessen funktional-operatives Schema und als statisches Raster durchschaut, die sie zugleich sprengen und umordnen kann. Die Vernunft schafft Synthesen und baut Brücken, während die Ratio aufgrund ihrer statischen Verfaßtheit in ihrem eigenen Schema verharrt. Die Vernunft reflektiert, wo der Verstand nur bestimmt4. Insofern findet das vernünftige Begreifen der Philosophie im Bereich des intellectus statt, der den Verstand übersteigt und dabei die Bedingungen der rationalen Wissenschaften in den Focus der Reflexion rücken kann. Die Bestimmungen des Verstandes sind für den binnen-rationalen Bereich zwar geeignet, aber über diesen hinaus sowie für die voraussetzungskritische Dimension der philosophischen Reflexion inkommensurabel und damit außerhalb seiner selbst ohne jede Bedeutung. Die rein logisch als intrinsische Struktur des Verstandes sich etablierende Kompetenz der Ratio verweilt im funktional-technischen Bereich seiner eigenen Anwendung durch Ontologisierung axiomatisch fixierter Regeln, über die nur durch Reflexion auf deren eigene Bedingungen und Voraussetzungen hinauszugelangen ist.
Cusanus teilt die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes (»mens«) in vier verschiedene Regionen ein, die keinen ontologischen, sondern einen gnoseologischen oder erkenntnisrelevanten und symbolischen Status für sich beanspruchen. Auf der untersten Stufe ist danach die Sinneswahrnehmung (sensatio) angesiedelt, in welcher keine Negation und damit auch keine Widerspruchsmöglichkeit vorliegt. Ein sinnlich wahrgenommener Gegenstand kann sich nicht selbst widersprechen, widersprechen können sich nur Theorien über ihn (A=A und nicht: A=Non-A). Insofern läßt sich die nächsthöhere Stufe als die des Verstandes (ratio) darstellen, in welcher der Widerspruch durch seine Unterscheidung zwischen Bejahung und Verneinung innerhalb von Theorien, d.h. als wahr oder falsch, allererst ermöglicht wird. Der Verstand geht nach logischen Prinzipien vor und kann – seinem eigenen Gesetz nach – nicht dasselbe sowohl bejahen als auch verneinen.
Doch wie der Verstand als die höhere Stufe gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Dingen durch rationale Bestimmungen der sensationes, d. h. durch Abgrenzung bzw. durch Unterscheidung, durch differenzierende Spezifikation aufgefaßt wird, so steht die Region der Vernunft (intellectus) über der Ratio als diejenige Instanz, die zum Verstand selbst auf Distanz (»in alteritate«) zu gehen vermag. In der suprarationalen Vernunft bestehen sowohl Affirmation als auch Negation miteinander in der sie umfassenden Idee der Koinzidenz, welche die Gegensätze der Ratio umschließend begreift. Durch die Sinnlichkeit wird demnach der Verstand affiziert und zu deren Unterscheidungen motiviert, wie sich die Vernunft gegenüber dem Verstand als dessen »Andersheit« zu ihm ins Verhältnis setzt. Die Region der Sinnlichkeit wird demnach vom Verstand auf Begriffe gebracht, indem deren unterscheidbare Begrenzung durch den dynamischen Geist zum Zwecke der Ratio ihre Bestimmung erfährt. Der (supra-sensuale) Verstand ordnet die sinnliche Welt, wie die (supra-rationale) Vernunft die Ordnungen des Verstandes begreift: Als diesen drei Regionen des menschlichen Geistes (sensatio, ratio, intellectus) gegenüber höchste Region nennt Cusanus die absolute Einheit und Einfachheit, in welcher (supra-intellectualiter) alles aufgehoben wird, was in den genannten Regionen des Geistes Gültigkeit hat: Die absolute, unendliche und complikative Einheit ist über all das erhaben, aber zugleich deshalb für den menschlichen Geist in seiner Endlichkeit nicht zugänglich (»summa autem praecisio intellectus est veritas ipsa, quae deus est«)5.
Mit seiner Regionentheorie der Wahrheit greift Cusanus die metaphysischen Einheiten »Körper, Seele, Intelligenz und Gott« auf, wobei es für die oberste, alles in sich enthaltende, absolute Einheit und Wahrheit keine angemessene Ausdrucksweise geben kann. Angemessene und hinreichend mensurable Terminologie besteht aber ohnehin nur im Bereich der rationalen Bestimmung in geschlossener Semantik, die jedoch ihrerseits mit dem Reflexionsdefizit aufwartet, dabei keine ontologische Relevanz erzielen zu können. Von der Gnoseologie zur Funktional-Ontologie führt nach Cusanus einzig die temporär plausible Metapher, die bei sinnaufschließendem Gelingen in offener Semantik auch die Geburt des Begriffs aus ihrem eigenen Geist heraus generieren kann. Deshalb ist es auch (sufficienter spectata) von ausreichender Relevanz, den Bereich der divinalen Gesichtspunkte einer »visio dei« metaphorisch reich und zugleich hinreichend dicht zu halten, ohne damit eine Kommensurabilität mit dem disjunktiven Verstand erzielen zu müssen. Die der menschlichen Erkenntnis zugänglichen Regionen von der Sinnlichkeit über den Verstand bis zur Vernunft machen hingegen die vitalen und dynamischen Stufen des Geistes aus, dessen vollendete Bewegung durch den Intellectus geleistet wird. Auf der endlichen Seite ist der menschliche Geist das Umgreifende des Sinnlichen, Rationalen und Intellectualen in eins mit der Fähigkeit zu Auf- und Abstieg (as-scensus und de-scensus) innerhalb der in seine Ressorts fallenden Regionen, wobei er auch hierbei nur das mit exakter Genauigkeit erkennt, was er analytisch zum Gegenstand hat.
Dies wiederum betrifft die Sphäre der formalen Logik und der diesem Schema folgenden Mathematik sowie aller darauf verpflichteten Wissenschaften. Die Logik bleibt zwar bloßes Verstandesprodukt, hat aber dennoch vorausweisend symbolischen Charakter für den philosophischen Transzensus und für die spekulative Hypothesis des Unendlichen hinaus. Die auf Rationalität restringierte Logik ist jedoch weder allumfassend noch lebendig, denn sie enthält nicht das Gegenteil ihrer selbst als regula veri. Im Gegenteil, die rationale Vorgehensweise ontologisiert quasi bewußtlos ihre eigenen Inhalte, indem sie ihr Schema verabsolutiert und dabei die Reflexion auf ihre eigenen Voraussetzungen