All dies war Cusanus natürlich bekannt, weshalb er in seinen frühen Predigten auch noch das Bestrafungsritual der Kirche mit ihrem Talionsrecht voll und ganz zeitgenössisch unterstützt hatte. Als Kirchenrechtler hingegen wußte er auch genau, wo die Grenzen des Machbaren liegen und wie man diese diplomatisch für sich nutzen konnte. Wäre sein philosophisches Spätwerk »De beryllo« (1457) schon zu Zeiten seiner »Docta ignorantia« (1438–1440) erschienen, in der er zwar auch schon häresieverdächtige Thesen veröffentlicht hat, hätten ihm auch die Sanktionen wie bei Jan Hus blühen können. Aber vor der Niederschrift von »De beryllo« mit dem Mantel eines Kardinals ausgestattet, mit der Frühschrift »De concordantia catholica« (1437) gerüstet und vor allem mit einer treffsicheren Diplomatie versehen sowie mit kirchenmächtigen Freunden um ihn herum, konnte er es sich eher leisten, bis an die Grenzen zu gehen, diese aber auch nicht zu überschreiten.
Grenzbestimmungen spielen auch in seiner Philosophie eine wichtige Rolle, insbesondere in »De coniecturis«, worin die wichtigsten Unterscheidungen z. B. zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus), aber auch zwischen unserer Sinnlichkeit (sensatio) und dem nicht erfaßbaren Gottesbegriff (deus), zu finden sind, für den Cusanus eine ganze Reihe von Metaphern (»Possest«, »Non-aliud« etc.) kreiert hat, um ihn als Grenzbegriff denken zu lassen. Allerdings folgt aus dem Denkzwang kein Seinszwang, worin die eigentliche Häresie des Koinzidenz-Denkers liegt, der im Jahre 1423 zum Doctor decretorum (Kirchenrecht) promovierte, bevor er nach einem Jahr in Rom wieder in seine Geburtsstadt Cues zurückgekehrt ist. Zwei Jahre später studierte der promovierte Kirchenrechtler an der Universität zu Köln noch Theologie, vor allem jedoch Philosophie und hielt nebenbei, jedoch ohne Professur und quasi als Gastdozent, kirchenrechtliche Vorlesungen. 1428 unternahm er eine Studienreise nach Paris und erhielt im selben Jahr einen Ruf als Professor an die erst kurz zuvor (im Jahre 1425) gegründete Universität zu Löwen, den er jedoch nicht annehmen wollte. Dafür nahm er 1430 die Stelle als Sekretär des Trierer Domherren Ulrich von Manderscheid an und wurde zwei Jahre später dessen persönlicher Berater und Advokat auf dem Konzil von Basel. Die Vertretung seines Anspruchs auf den Trierer Bischofssitz verlief jedoch ohne Erfolg; während im Jahre 1431 Jeanne d’Arc in Rouen unter Leitung des Bischofs von Beauvais verbrannt wurde.
Bereits im Jahre 1435 erhielt Cusanus erneut einen Ruf an die Universität Löwen, den er jedoch abermals ablehnte und dafür lieber die Stelle als Propst des außergewöhnlich begüterten Augustinus-Chorherrenstifts Sankt Martinus und Severus in Münstermaifeld wählte. 1437 wechselte Cusanus zur Konzilsminderheit und verließ schließlich ganz das Konzil, um sich dem Papst Eugen IV. anzuschließen. Ein Jahr später unternahm er eine Gesandtschaftsreise im Auftrag des Papstes und erlebte 1438 auf der Rückreise auf hoher See seine »visio intellectualis«, die ihn von nun an seine Koinzidenzphilosophie etablieren ließ, die wie durch einen Zufall der Forschung als plötzlicher Einfall in einem Augenblick ausgelöst wurde. Der Priesterweihe ein Jahr später folgte im Jahre 1440 die Vollendung seiner »Docta ignorantia« als Resultat seines blitzartigen Erlebnisses auf dem Schiff, die sozusagen sein philosophisches Erstlingswerk darstellt. Damit nimmt die Koinzidenzlehre ihren Lauf, die zwei Jahre später in der Schrift »De coniecturis« und ihrer funktionalontologischen Regionentheorie mit dem Unterschied zwischen Verstand und Vernunft in der Mitte die Dimension Gottes als Grenzbegriff denken ließ.
1448 ernannte ihn sein Freund, der neue Papst Nikolaus V., zum Kardinal in petto. Die Verteidigungsschrift gegen den Heidelberger Theologieprofessor Wenck mit dem Titel »Apologia doctae ignorantiae« erschien im selben Jahr, bevor die öffentliche Erhebung zum Kardinal und zum Bischof von Brixen im Jahre 1450 erfolgen konnte, in dem auch seine »Idiota-Schriften« erschienen sind (»De sapientia I und II«, »De mente« und »staticis experimentis«). In das Jahr 1453 fielen die Eroberung Konstantinopels und eine Vielzahl von weiteren philosopischen und theologischen Schriften (u. a. »De visione dei« und »De pace fidei«), bevor im Jahre 1457 sein eigentliches philosophisches Hauptwerk »De beryllo« erschienen ist. Der neue Papst und Humanist Enea Silvio Picolomini, Pius II., rief ihn ein Jahr darauf nach Rom, wo viele weitere Schriften des Cusanus – seiner Spätphilosophie folgend – entstanden sind: u. a. »De possest«, »De non-aliud«, »De venatione sapientiae«, »De apice theoriae« etc. Am 16. 7. 1464 erkrankte Cusanus auf dem Weg nach Venedig zur Vorbereitung eines Kreuzzuges gegen die Osmanen und starb am 11. 8. 1464 in der umbrischen Bergstadt Todi. (Drei Jahre später starb auch Papst Pius II. in Ancona). Man kann also sagen, daß in den knapp 25 Jahren von 1440 bis 1464, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, die eigentliche Schaffenskraft des Cusanus lag, der als beständig häresieverdächtiger Theologe und als dialektisch denkender Philosoph nicht nur eine theoretische Oppositionskoinzidenz, sondern auch eine biographische »coincidentia oppositorum« in sich vereinigen konnte: Als »humanus deus« oder als »secundus deus in creando« in seinen eigenen Worten ausgedrückt. Mit seinem fast schon liberalen Geist (dem Mittelalter gegenüber), seiner dialektischen Philosophie als regula veri (der contradictio falsi gegenüber), seinem vernunftbetonten Geist (dem Rationalismus gegenüber) und mit seinem dynamischen Mentalismus (der Ontologie gegenüber) sowie seinen transzendentalphilosophischen Anklängen (dem Positivismus gegenüber) bis hin zu seinen pragmatischen Individualitäts-Aspekten (dem Dogmatismus gegenüber) und seinem Relativismus (der Beliebigkeit gegenüber) war Cusanus der Universalgelehrte der Renaissance als Jurist, Theologe, Astronom, Mathematiker und nicht zuletzt als der Philosoph des 15. Jahrhunderts, der bis in unsere heutigen Tage noch einige Aufarbeitung benötigt, vor allem aber zur Kenntnisnahme durch die Philosophie und zugleich der Theologie sowie durch die Modeströmung des unreflektierten Naturalismus einlädt.
Und dazu genügt es nicht, dem Verstandesdenken der Wissenschaften alleine die philosophische Reflexion zu überlassen. Es bedarf vielmehr der Vernunft, die den Bedingungen und Voraussetzungen der wissenschaftlich rationalen Theorien und deren Zustandekommen wie auch deren Reichweite und Geltungsbereich mit philosophischer Skepsis und Kritik begegnet. Denn »tanto quis doctior erit, quanto se sciverit ingorantem«. Und dies stellt eine Einsicht der Vernunft (intellectus) und nicht des Verstandes (ratio) dar. Daß der Verstand überhaupt zur Vernunft kommen kann, ist ein Verdienst der Vernunft und nicht des Verstandes – daß die Vernunft dabei nicht um den Verstand gebracht wird, ist hingegen ein Verdienst des Verstandes und der Vernunft, so könnte man im ersten Zugriff das Reflexionsverhältnis bei Nicolaus Cusanus bestimmen, das zu seinen zentralen Theoremen führt.
Warum ist es aber überhaupt sinnvoll, zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) zu differenzieren, und welche Instanz trifft hierbei die Unterscheidung? Ist es die Wissenschaft, die uns mit ihren rationalen Einteilungen Wissen verschafft? Oder ist es die philosophische Reflexion, die mit ihrer Rückbeugung auf die Bedingungen und Voraussetzungen der Wissenschaft eine zugleich höhere und tiefere Einsicht ermöglicht? Philosophie als Reflexionsdisziplin wäre gewiß überflüssig, wenn die auf Rationalität verpflichtete Wissenschaft von sich aus in der Lage wäre, die genannten Fragen auch selbst zu beantworten. Doch welche Mittel stehen der Philosophie zur Verfügung, wenn sie quasi trans-rational und vernunftgeleitet derartige Spezifikationen explizieren will, die bis in den Kern ihrer eigenen Prinzipien hineinreichen? Oder kurz: Was unterscheidet die wissenschaftlich rationale Vorgehensweise von der Reflexion der Philosophie?
Von der Wissenschaft erwartet man gewöhnlich, daß sie streng rational vorzugehen und dabei verläßliche Ergebnisse zu liefern habe. Sie soll widerspruchsfrei formuliert, präzise und genau, mithin logisch stringent sein. Aber spätestens mit der Diskussion über die Postmoderne und deren facettenreicher Vielfalt der Erkenntnisweisen ist die rationalistische Wissenschaftstheorie wieder einiger Skepsis ausgesetzt. Doch selbst im Umfeld dieser pluralistisch bemühten Vernunft wird kaum beachtet,