GOTIK (UM 1140/45–UM 1500)
Als Ursprungsland des gotischen Stils gilt das französische Kronland, die Île-de-France. Im Lauf der Jahrhunderte und von Land zu Land schälten sich schließlich derart viele stilistische Unterschiede heraus, dass letztlich nur noch eine Form als übergreifende Stilkategorie übrigzubleiben scheint, der Spitzbogen: das Resultat einer innovativen Baukonstruktion, die keinerlei Gemeinsamkeiten mehr mit irgendwelchen antiken Vorbildern oder Regeln besitzt (weshalb die »Gotik« für italienische Renaissancetheoretiker auch der »antiklassische« Stil schlechthin war). Aus dem Spitzbogen wachsen noch die kompliziertesten Gewölbe und Maßwerkformen des 15. Jahrhunderts hervor, und er beherrscht als ornamentales und gliederndes Prinzip auch die gotisch-lineare Formensprache anderer Kunstzweige.
Die spezifische Bautechnik, die einen Großteil der statischen Elemente als Strebewerk nach außen verlagerte und im Inneren zu einer Skelettbauweise (das Kreuzrippengewölbe durch Dienste und Pfeiler abgestützt, die Wände dazwischen als nichttragende »Füllwände«) führte, ermöglichte eine »Lichtarchitektur«, in der die farbigen Glasfenster eine überragende Rolle spielen. Deutschland und Italien nahmen die Gotik nur zögernd und verspätet auf.
Die Plastik blieb in der Gotik nach wie vor meist mit der Architektur verbunden und entfaltete sich an Portalen usw. zu teilweise riesigen Programmen, wie Frankreich vorexerzierte. Deutschland bot herausragende Beispiele der hochgotischen Plastik (Straßburg, Magdeburg, Bamberg, Naumburg usw.), aber auch solche der Spätgotik (»Schöne Madonnen«, der geschnitzte Flügelaltar des 15. und frühen 16. Jahrhunderts).
In jenen Regionen, die das französische Architektursystem bevorzugten, hatte die Malerei zunächst ihr wichtigstes Betätigungsfeld zweifellos auf dem Sektor der Glasmalerei. Doch auch die Buchmalerei erhob sich zu neuer Blüte. Die Manessische Liederhandschrift belegt, dass mit dem 14. Jahrhundert die profanen Auftraggeber immer wichtiger wurden, eine Tendenz, die in den Stundenbüchern des 15. Jahrhunderts neue Schwerpunkte in Burgund und den Niederlanden schuf. Seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts nahm nördlich der Alpen auch die Tafelmalerei einen stets gewichtigeren Raum ein. In den deutschsprachigen Regionen zum Beispiel wird sie mit Lukas Moser, Konrad Witz, Stefan Lochner, Michael Pacher, Martin Schongauer und anderen Künstlern des 15. Jahrhunderts zur Dürer-Zeit und zur Renaissance hinführen. Und Deutschland war es auch, das im 15. Jahrhundert die Druckgraphik auf ihren Erfolgsweg schickte. Die neuen künstlerischen Zentren, die um 1400 an den Höfen entstanden waren (Paris, Bourges, Dijon, Prag, Mailand usw.), brachten mit ihrer Luxuskunst und ihren verfeinerten Formen nochmals eine einheitliche europäische Formensprache hervor, die der so genannten »Internationalen Gotik«, die sogar Impulse auf die um 1420 in Italien mit Macht einsetzende Frührenaissance abzustrahlen vermochte.
ZWEI SONDERFÄLLE: DAS TRECENTO UND DIE ALTNIEDERLÄNDISCHE MALEREI
Die italienische Trecentokunst (14. Jahrhundert) versteht man heute zumeist als ein Vorspiel der Renaissance des 15. Jahrhunderts. Die Architektur zwar verblieb zumeist in konsequent gotischer Orientierung, wenn auch in einer bezeichnend italienischen Version, die nicht wie in Frankreich oder Deutschland zur hochgradigen Wandauflösung tendiert, sondern reichlichst Mauerflächen als Tummelplatz ausgedehnter Wandmalereien beibehält. Die Bildhauerei allerdings beschritt vor allem mit den Arbeiten eines Giovanni Pisano ein Terrain, das entscheidende Merkmale der Renaissanceskulptur vorbereitete. Und vollends die Malerei entwickelte seit Giotto und in dessen Nachfolge eine den Horizont der kommenden Jahrhunderte programmierende Bildsprache, mit der nicht umsonst die heutige Kunstwissenschaft die Geschichte der neuzeitlichen Malerei und die »Erfindung« des autonomen, des eigengesetzlichen Bildes beginnen lässt.
Etwa gleichzeitig, als in Italien zu Beginn des 15. Jahrhunderts der Grundstein für die Renaissance gelegt wurde, bildete sich in den südlichen Niederlanden das andere große Zentrum neuzeitlicher Kunst in Europa heraus. Bewunderndes Staunen riefen schon bei Zeitgenossen des In- und Auslandes die niederländischen Gemälde, Altäre und Buchmalereien des 15. Jahrhunderts hervor. Eine Revolution der Wahrnehmung verband sich in ihnen mit einer außerhalb Italiens und seiner Trecento-Tradition bisher noch unbekannten Aufwertung der Malerei als eines autonomen, selbstbewussten künstlerischen Mediums; feierlichste Stimmungen und ein die Sinne überwältigender Farbluxus gingen mit faszinierendem Detailrealismus und moderner empirischer Naturbeobachtung eine perfekte Synthese ein, die diese Kunstproduktion aus dem Gros des gotischen Stils als etwas ganz Besonderes heraushebt.
RENAISSANCE UND MANIERISMUS (15.–16. JAHRHUNDERT)
In seiner heutigen kunst- und kulturgeschichtlichen Bedeutung wurde der Begriff »Renaissance« – verstanden als Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist der Antike heraus – im 19. Jahrhundert in Frankreich geprägt. Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt hat dann 1860 in seinem Buch »Die Kultur der Renaissance in Italien« dem Epochenbegriff allgemeine Bedeutung verliehen und die Kunst Italiens ab 1400 unter das Stichwort »Die Entdeckung der Welt und des Menschen« gestellt. Vergleichbar hatte bereits 1550 Giorgio Vasari von der »Rinascità« der Kunst im Trecento gesprochen, die sich, anders als das Mittelalter und die Gotik, erstmals wieder am Naturvorbild orientiert habe.
Die »Wiederentdeckung« der Antike ist als Stilkriterium zunächst problematisch, da ja auch frühere Epochen dieses Phänomen kannten. Es gilt also, das Spezifische der »Antikennachahmung« in der »eigentlichen« Renaissance zu verstehen. Man neigt heute dazu, nicht die Rückbesinnung auf antike Vorbilder als den Motor der Entwicklung anzusehen, sondern umgekehrt den Naturalismus als Ausgangspunkt zu nehmen, der dann den Künstlern erneut die Augen für die Antike öffnete.
Intellektuelle und Künstler sahen diese Antike erstmals auch im Rahmen eines neuartigen Geschichtsbewusstseins, weswegen sie sie historisch möglichst angemessen kennenlernen wollten: Quellenstudium und »archäologische« Recherchen waren deshalb für jeden, der sich seriös mit der Antike auseinandersetzte, eine unerlässliche Vorbedingung. Da die Kunst und die geistige Strömung im Italien des 14. Jahrhunderts schon entscheidend vorgearbeitet hatten, ist es nicht abwegig, dieses Trecento in die Vorgeschichte der Renaissance hereinzunehmen. Die Verwissenschaftlichung des Altertums ging parallel mit einer umfassenderen Intellektualisierung. Zunehmend stiegen nämlich die Anforderungen an die Bildung des Künstlers, der Auftraggeber und Mäzene, nicht zuletzt, um so die Kunst aus der früheren Bindung ans »einfache« Handwerk herauszulösen. Dementsprechend entstand eine reiche Literatur, in der die Künstler begannen, den Stellenwert der Kunst als eigenes Medium zu überdenken – was sich bis zum Wettstreit der Künste, dem »Paragone«, steigerte.
Die Kunsttheorie suchte quasi wissenschaftliche Regeln und Normen aufzustellen, nach denen Kunst lehr- und lernbar wurde, ein Lehrsystem, das die nun entstehenden Akademien praktizierten und an die nächsten Jahrhunderte weitergaben. Dieser Regelapparat lag oft auch dem Aufbau der immer zahlreicher werdenden Privatsammlungen zugrunde, die vom Kunsthandel, den Kennern und Mäzenen aufgebaut wurden.
Es wäre indes falsch, die an der Natur, der Antike, an der antiken Mythologie ebenso wie am wissenschaftlichen Denken des Humanismus ausgerichtete Renaissance als ein im Vergleich zum Mittelalter ganz und gar verweltlichtes Zeitalter zu begreifen. Zum einen bildete ja die religiöse Kunst weiterhin einen Schwerpunkt, zum anderen sollte die Natur nicht einfach nachgeahmt, sondern in ihrer Vollkommenheit gezeigt werden. Sie wurde zum »Buch«, aus dem man die göttliche Schönheit herauslesen