Wie es Holmes vorausgesehen, regnete es nicht, und der Morgen brach klar und wolkenlos an. Lestrade holte uns um neun Uhr mit dem Wagen ab, und wir fuhren nach dem Pachthof von Hatherley und dem Bascombe-Teich.
»Heute morgen ist eine ernste Nachricht eingetroffen«, sagte Lestrade, »es heißt, Herr Turner sei so krank, daß man an seinem Aufkommen zweifelt.«
»Wohl ein älterer Mann?« fragte Holmes.
»Vielleicht ein Sechziger. Der überseeische Aufenthalt hat seine Konstitution zerrüttet, und er kränkelt seit geraumer Zeit. Dieser Unglücksfall hat ihn übel mitgenommen. Er war ein alter Freund Mc Carthys und, wie mir scheint, sein Wohltäter, denn, wie ich hörte, überließ er ihm Hatherley pachtfrei.«
»Wirklich? Das ist recht interessant!« sagte Holmes.
»Ja, er hat Mc Carthy auch sonst in jeder Weise geholfen. In der Umgegend rühmt jeder, was er alles für ihn tat.«
»Wirklich? Kommt es Ihnen nicht etwas sonderbar vor, daß dieser Mc Carthy, der doch sehr unvermöglich war und Turner so viel verdankte, in so zuversichtlicher und bestimmter Weise von einer Verbindung seines Sohnes mit Turners Tochter – der künftigen Gutsherrin – gesprochen hat, als ob dies die einfachste Sache von der Welt wäre. Und dies wird um so befremdlicher, als bekanntlich Turner der Heirat abgeneigt war. Die Tochter gab uns das deutlich zu verstehen. Läßt Sie das nicht auf etwas schließen?«
»Da wären wir also schon glücklich bei den Schlüssen und Folgerungen angelangt«, sagte Lestrade und zwinkerte mir zu. »Ich finde es schon schwer genug, Herr Holmes, die bloßen Tatsachen festzuhalten, ohne ausgedachten Theorien nachzujagen.«
»Sie haben recht«, sagte Holmes spöttisch, »es fällt Ihnen sehr schwer, die Tatsachen zu fassen.«
»Und doch ist mir eine Tatsache klar, die Sie nur schwer festzuhalten vermögen, wie mir scheint«, meinte Lestrade etwas erregt.
»Und das wäre?«
»Daß Mc Carthy senior seinen Tod von der Hand Mc Carthys juniors erlitt, und daß alle gegenteiligen Annahmen eitel Mondschein sind.«
»Zum Glück ist Mondschein heller als Nebel«, versetzte Holmes lachend, »doch irre ich nicht, so ist hier zur Linken der Pachthof von Hatherley.«
»Ja, allerdings.« – Vor uns lag ein geräumiges, hübsch ausgestattetes Wohnhaus, zwei Stockwerke hoch und mit Schiefer gedeckt. Indessen verliehen die herabgelassenen Jalousien und die rauchlosen Kamine dem Gebäude ein totes Aussehen, es war, als laste die begangene Freveltat darauf. Wir klopften an, und auf Holmes’ Nachfrage zeigte uns die Magd die Stiefel, welche ihr Herr am Todestag getragen, sowie ein Paar des Sohnes, wenn auch nicht diejenigen, die er damals angehabt hatte. Nachdem Holmes diese sehr genau nach sieben bis acht Richtungen gemessen hatte, ließ er sich in den Hof führen, von wo aus wir den gewundenen Pfad nach dem Teich von Bascombe folgten.
Sherlock Holmes war geradezu verwandelt, wenn er sich, wie eben jetzt, auf frischer Fährte befand. Wer nur den ruhigen Denker und Logiker aus der Bakerstraße kannte, hätte ihn hier für einen andern Menschen gehalten. Sein Gesicht war gerötet und schien dunkler. Seine Augenbrauen liefen in zwei scharfe, schwarze Linien zusammen, unter welchen die Augen mit stählernem Glanze hervorleuchteten. Sein Blick war zur Erde gerichtet, seine Schultern nach vorn gebeugt, die Lippen zusammengepreßt, und an seinem langen, sehnigen Hals traten die Adern wie gespannte Saiten hervor. Seine Nasenflügel schienen vor wilder Jagdlust zu beben, und er war so voll und ganz bei der Sache, daß er eine an ihn gerichtete Frage oder Bemerkung kaum vernahm und höchstens mit einem raschen, ungeduldigen Knurren erwiderte. Schnell und schweigsam schritt er auf dem Pfad durch die Wiesen und dann durch den Wald nach dem Teich. Der Boden war, wie in der ganzen Umgegend, feuchter Moorboden, und es fanden sich auf dem Pfade selbst wie auf dem schmalen Grasstreifen daneben viele Fußspuren. Bald eilte Holmes voran, bald stand er regungslos da, und einmal ging er eine kurze Strecke auf die Wiese. Lestrade und ich schritten hinter ihm drein; der Detektiv gleichgültig und würdevoll, während ich jeder Bewegung meines Freundes gespannt folgte, denn ich wußte genau, daß alles, was er tat, einen bestimmten Zweck hatte.
Der Bascombe-Teich, eine kleine, mit Schilf umsäumte Wasserfläche von etwa fünfzig Meter, liegt an der Grenze zwischen dem Pachtgut von Hatherley und dem Park des Herrn Turner.
Drüben, über den Wäldern des jenseitigen Ufers, konnten wir die roten Türme sehen, die zu der Besitzung des reichen Eigentümers gehörten. Auf der nach Hatherley zu gelegenen Seite des Teiches stand der Wald sehr dicht; nur ein schmaler Rand frischen Grases zog sich zwischen den Bäumen und dem Rohr hin, das den Teich begrenzte. Lestrade wies uns die genaue Stelle, wo die Leiche aufgefunden worden war; der Boden war so feucht, daß ich deutlich die Spuren sehen konnte, die der Fall des Körpers verursacht hatte. Holmes – das las man auf seinen gespannten Zügen und in seinem forschenden Blick – entnahm dem zertretenen Grasplatz noch viele anderen Dinge. Wie ein Jagdhund, der Beute wittert, lief er umher und wandte sich dann an meinen Gefährten.
»Warum sind Sie denn ins Wasser gegangen?« fragte er.
»Ich fischte mit einem Rechen umher. Ich hoffte irgend eine Waffe oder sonst eine Spur zu entdecken. Aber wie in aller Welt wissen Sie…?«
»Ach, papperlapapp! Jetzt habe ich keine Zeit! Ihr linker Fuß, mit seiner Drehung nach innen, ist ja allenthalben sichtbar. Dem vermöchte sogar ein Maulwurf zu folgen! Und hier verschwinden Ihre Schritte im Rohr. Ach! wie einfach wäre vieles gewesen, hätte ich hier sein können, ehe alles wie von einer Büffelherde niedergestampft wurde. Hier kam die Gesellschaft mit dem Aufseher her, und sie hat wahrhaftig sieben bis acht Fuß um die Leiche herum alle Spuren vertrampelt. Aber hier – hier sind drei abgesonderte Abdrücke ein und desselben Fußes.« Holmes zog ein Vergrößerungsglas hervor und legte sich auf seinen Regenmantel nieder, um genauer sehen zu können, wobei er mehr mit sich selbst als mit uns sprach: »Das sind des jungen Mc Carthys Spuren. Zweimal ging er ruhig, und einmal lief er so geschwind, daß die Sohlen sehr kräftig, die Absätze nur ganz flüchtig eingedrückt sind. Darin liegt seine ganze Geschichte. Er lief, als er seinen Vater am Boden sah. Ferner sind hier die Fußstapfen des Vaters, als er auf-und abging – was ist aber das? Das Kolbenende des Gewehrs an der Stelle, wo der Sohn stand und aufhorchte. – Und dies? – Ha! ha! Was haben wir hier? Fußspitzen! Fußspitzen! Und das sind breite – ganz ungewöhnliche Stiefel! Sie kommen – gehen – kommen wieder – natürlich wegen des Mantels. Wo aber kamen sie her?« Holmes lief auf und ab, bald fand er die Spur, bald verlor er sie, bis wir an der Waldecke zu einer Buche, dem größten Baum der Umgegend, gelangten. Holmes ging weiter im Schatten des Baumes, legte wieder das Gesicht an den Boden und stieß einen leisen Ruf der Befriedigung aus. Lange Zeit blieb er in dieser Lage, durchsuchte Blätter und trockene Zweige, nahm, wie mich dünkte, etwas Staub in einen Briefumschlag und untersuchte mit seinem Glas nicht allein den Boden, sondern sogar die Rinde des Baumes, so hoch er reichen konnte. Ein spitzer Stein lag im Moos, auch den betrachtete er genau und nahm ihn zu sich. Dann folgte er einem Fußweg durch den Wald bis zur Landstraße, wo jede Spur verschwand.
»Das war ein höchst merkwürdiger Fall«, bemerkte er und nahm wieder sein gewohntes Wesen an. »Ich denke, das graue Haus dort muß die Wohnung des Aufsehers sein. Ich werde wohl hineingehen, ein paar Worte mit Moran reden und vielleicht einige Zeilen schreiben. Nachher können wir zum Frühstück zurückfahren. Gehen Sie gefälligst voraus zum Wagen, ich folge sogleich.«
Ungefähr zehn Minuten später waren wir auf dem Wege nach Roß; Holmes hielt noch immer den Stein, den er im Walde aufgelesen hatte.
»Das könnte Sie interessieren, Lestrade«, bemerkte er und wies auf den Stein, »der Mord wurde damit ausgeführt.«
»Ich sehe keinerlei Anzeichen an dem Stein.«
»Es sind auch keine daran.«
»Wie wollen Sie