Er krümmte sich förmlich in der Qual seiner Unentschlossenheit.
Seine Worte hatten auf McMurdo einen tiefen Eindruck gemacht. Es war leicht zu erkennen, daß er die Meinung des anderen über das Bestehen einer ernsten Gefahr teilte und die Notwendigkeit einsah, ihr beizeiten entgegenzuwirken. Er ergriff Morris bei der Schulter und schüttelte ihn.
»Mann,« rief er mit einer vor Aufregung fast kreischenden Stimme »damit ist uns nicht geholfen, daß Sie hier sitzen und jammern, wie ein altes Weib beim Leichenbegängnis. Heraus mit dem, was Sie wissen. Wer ist der Kerl und wo ist er? Wie haben Sie davon gehört, und warum kommen Sie gerade zu mir?«
»Ich kam zu Ihnen als dem einzigen Menschen, der mir einen Rat geben kann. Ich sagte Ihnen schon, daß ich in den Oststaaten einen Laden hatte, bevor ich hierherkam. Ich habe dort noch gute Freunde und einer davon ist im Telegraphendienst. Gestern erhielt ich von ihm einen Brief. Lesen Sie ihn selbst, hier dieser Teil ist es, auf der oberen Seitenhälfte.«
McMurdo las das Folgende:
»… Wie geht’s den Rächern? Wir lesen viel darüber in den Zeitungen. Ich erwarte, von Ihnen baldigst darüber zu hören. Fünf große Bergwerksgesellschaften und zwei Eisenbahnen haben die Sache in allem Ernst in die Hand genommen. Sie sind entschlossen, den Rächern den Garaus zu machen, und Sie können sich darauf verlassen, daß es ihnen gelingen wird. Die Sache ist schon weit gediehen. Pinkertons sind mit den Nachforschungen betraut, und der Beste ihrer Leute, Birdy Edwards, arbeitet in der dortigen Gegend. Sie wollen ein für allemal Schluß machen mit der Mörderbande.«
»Und jetzt lesen Sie die Nachschrift.«
»… Was ich Ihnen mitgeteilt habe, ist Amtsgeheimnis und bleibt daher selbstverständlich unter uns. Tagtäglich gehen meterlange Streifen in Chiffreschrift aus Ihrer Gegend durch meine Hände, aber ich weiß nicht, was ich daraus machen soll.«
McMurdo saß eine Zeitlang schweigend da, mit dem Brief in seinen ruhelosen Händen. Der Dunstkreis um ihn hatte sich verzogen, und der Abgrund lag klar erkennbar vor ihm.
»Weiß sonst noch jemand etwas davon?« fragte er.
»Ich habe noch kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«
»Und hat dieser Mensch, Ihr Freund, hier noch andere Bekannte, denen er möglicherweise dasselbe schreiben würde?«
»Ich glaube noch ein paar.«
»Auch solche aus der Loge?«
»Sehr leicht möglich.«
»Ich frage Sie danach, weil er vielleicht irgend jemandem eine Beschreibung dieses Menschen Birdy Edwards gegeben haben könnte. Dann wären wir in der Lage, dem Mann auf die Spur zu kommen.«
»Kann sein, aber wahrscheinlich kennt er ihn gar nicht. Er hat mir nur mitgeteilt, was ihm im Amt bekanntgeworden ist. Woher sollte er den Pinkertonmann kennen?«
McMurdo fuhr plötzlich auf.
»Bei Gott!« rief er. »Ich weiß, wer es ist. Wie töricht von mir, nicht sogleich daran zu denken. Gott sei’s gedankt! Das ist unser Glück. Wir können ihn unter die Finger kriegen, bevor er Unheil stiften kann. Sagen Sie, Morris, wollen Sie mir die Sache überlassen?«
»Selbstverständlich. Ich bin nur zu froh, wenn ich damit nichts zu tun habe.«
»Nun gut, Sie können zusehen, während ich handle. Nicht einmal Ihr Name braucht genannt zu werden. Ich werde so tun, als ob ich selbst den Brief bekommen hätte. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ich könnte mir nichts Besseres wünschen.«
»Gut, dann bleiben wir dabei, und Sie halten Ihren Mund fest verschlossen. Ich gehe jetzt zur Loge hinunter und wir werden bald den alten Pinkertonmann so weit haben, daß es ihm leid tun wird, hierhergekommen zu sein.«
»Sie wollen ihn doch nicht umbringen?«
»Je weniger Sie wissen, Freund Morris, desto leichter wird Ihr Gewissen sein, und desto besser werden Sie schlafen. Fragen Sie nicht, und lassen Sie mich die Sache machen. Sie liegt jetzt in meinen Händen.«
Morris schüttelte wehmütig des Kopf, als er sich empfahl.
»Ich werde mir immer einbilden, daß sein Blut an meinen Händen klebt,« stöhnte er.
»Selbstschutz ist kein Mord,« sagte McMurdo mit einem grimmigen Lächeln. »Hier heißt es: entweder er oder wir. Der Mann würde uns alle vernichten, wenn wir ihn noch länger hier dulden. Ich glaube, wir müssen Sie noch zum Logenmeister machen, Bruder Morris, denn Sie haben die Loge gerettet.«
Aus dem, was er nun tat, ging klar hervor, daß er die Sache für ernster hielt, als seine Worte es wahrhaben wollten. Vielleicht war es sein schuldbeladenes Gewissen, vielleicht auch der Ruf des Pinkerton-Institutes oder das Bewußtsein, daß große, mächtige Gesellschaften sich die Aufgabe gestellt hatten, mit den Rächern aufzuräumen; wie dem auch war, seine Handlungen waren die eines Mannes, der sich auf das Schlimmste vorbereitet. Bevor er das Haus verließ, vernichtete er jeden Fetzen Papier, der ihm gefährlich werden konnte. Danach seufzte er erleichtert auf, denn er bildete sich ein, nunmehr sicher zu sein. Und doch mußte das Bewußtsein der Gefahr noch auf ihm lasten, denn auf dem Wege zur Loge blieb er bei dem Shafterschen Hause stehen. Der Eintritt war ihm zwar verwehrt, aber als er an das Fenster klopfte, kam Ettie heraus. Der Glanz verwegener Kühnheit war aus seinen Augen gewichen. Sie las die Zeichen drohender Gefahr in seinem ernsten Gesicht.
»Was ist geschehen?« rief sie. »Jack, es droht dir Gefahr?«
»So schlimm ist es nicht, Liebste, und doch ist es vielleicht klüger, wenn wir uns davonmachen, bevor es schlimmer wird.«
»Uns davonmachen?«
»Ich versprach dir einst, daß dies eines Tages geschehen würde. Dieser Tag ist nahe. Ich erhielt heute Nachrichten, schlechte Nachrichten, und sehe Unheil herannahen.«
»Die Polizei?«
»Nicht ganz. Ein Pinkerton-Detektiv. Aber du weißt selbstverständlich nicht, was das ist, noch was es für meinesgleichen bedeutet. Ich habe mich in diese Geschichte zu tief eingelassen, und es mag sein, daß ich in höchster Eile das Weite suchen muß. Du versprichst mitzukommen, wenn ich gehe?«
»Gewiß, Jack, es wäre deine Rettung.«
»In manchen Dingen bin ich ein ehrlicher Mensch, Ettie; ich könnte zum Beispiel nicht um die Welt ein Haar deines süßen Kopfes krümmen, oder dich auch nur um Zollbreite von dem goldenen Thron über den Wolken, auf dem ich dich immer sehe, herabziehen. Kannst du mir vertrauen?«
Sie legte, ohne ein Wort zu sprechen, ihre Hand in die seine.
»Nun gut, höre mir aufmerksam zu und tue genau das, was ich dir sage, denn es ist für uns die einzige Rettung. Es bereitet sich hier etwas vor, das fühle ich in allen Gliedern. Gar mancher von uns wird sehen müssen, wo er bleibt. Ich bin einer von ihnen. Wenn ich gehen muß, ob bei Tag oder bei Nacht, mußt du mitkommen.«
»Ich kann dir nachkommen, Jack.«
»Nein, nein, du mußt gleich mitkommen. Dieses Tal wird mir wahrscheinlich bald auf immer verschlossen sein; ich werde nicht mehr zurückkommen können. Wie könnte ich dich hierlassen, während ich mich vielleicht vor der Polizei verbergen muß und keine Möglichkeit habe, dir eine Nachricht zukommen zu lassen? Du mußt mitkommen. Dort wo ich zu Hause bin, ist eine gute Frau, bei der du bleiben kannst, bis wir heiraten können. Willst du?
»Ja, Jack, ich will.«
»Gott segne dich dafür. Liebste. Ich müßte ein Teufel aus der schwärzesten Hölle sein, wenn ich dein Vertrauen je mißbrauchte. Nun paß auf, Ettie, ich kann dir vielleicht nur ein Wort zukommen lassen. Aber wenn es dich erreicht, mußt du alles stehen