»Holmes!« flüsterte ich, »wie kommst du nur in dieses Loch?«
»So leise wie möglich«, antwortete er, »mein Gehör ist vorzüglich. Wenn du die Güte hättest, dich deines jammervollen Freundes dort zu entledigen, so wäre es mir sehr erwünscht, ein wenig mit dir zu plaudern.«
»Draußen habe ich einen Wagen stehen.«
»Dann schicke ihn doch nach Hause. Es ist keine Gefahr dabei, denn er fühlt sich zu schlaff und matt, um weiteres Unheil anzurichten. Auch möchte ich dir empfehlen, deine Frau durch den Fahrer wissen zu lassen, daß wir etwas zusammen vorhaben. Wenn du so lange draußen warten willst, so bin ich in fünf Minuten bei dir.«
Sherlock Holmes etwas abzuschlagen, war äußerst schwierig, denn er trug seine Bitten stets mit der größten Ruhe und Entschiedenheit vor. Zudem hatte ich das Gefühl, daß, sobald Whitney im Wagen säße, auch meine Verpflichtung gegen ihn zu Ende sei; und was konnte ich mir eigentlich Besseres wünschen, als eines der wunderlichen Abenteuer mitmachen zu dürfen, wie sie meinem Freunde zum Lebensbedürfnis geworden waren? In wenigen Minuten war der Zettel an meine Frau geschrieben, Whitneys Rechnung bezahlt, er selbst in den Wagen gesetzt und durchs Dunkel der Nacht davongefahren.
Kurz darauf stieg eine verkommene Gestalt aus der Opiumhöhle empor, und an meiner Seite schritt Sherlock Holmes. Zwei Straßenlängen weit schleppte er sich mühsam mit gebücktem Rücken und unsicherem Tritt vorwärts. Dann blickte er um sich, richtete sich auf und brach in ein herzliches Lachen aus.
»Und nun Watson«, sagte er, »bildest du dir gewiß ein, daß nun auch noch das Opiumrauchen zu den Kokaineinspritzungen und all den andern kleinen Schwächen gekommen ist, die mir die schätzenswerte Bekanntschaft mit deiner medizinischen Erfahrung nebenbei eingetragen hat.«
»Allerdings war ich überrascht, dich hier zu sehen.«
»Und ich nicht minder dich …«
»Ich suchte einen Freund.«
»Und ich einen Feind.«
»Einen Feind?«
»Ja, einen meiner natürlichen Feinde, oder, daß ich es richtiger sage, meine natürliche Beute. Mit einem Wort, Watson, ich stecke eben in einer ganz merkwürdigen Geschichte und hatte gehofft, in dem unzusammenhängenden Geschwätz dieser Kerle einen Schlüssel zu finden, wie mir das schon mehrfach geglückt ist. Wäre ich jedoch in diesem Loche erkannt worden, so war’s um mich geschehen, denn ich habe es früher schon für meine Zwecke ausgebeutet, und der Malaie, der Schurke von einem Wirt, hat mir Rache zugeschworen. An der Rückseite des Gebäudes befindet sich eine Falltür, in der Nähe der Paulswerfte, die könnte Schaudergeschichten erzählen von dem, was in mondlosen Nächten da schon hinabgestürzt ist.«
»Wieso? Du meinst doch nicht etwa, daß Leichen …?«
»Jawohl, Leichen, Watson; wir wären reiche Leute, wenn wir für jeden armen Teufel, der dort auf ewig stumm gemacht worden ist, unsere tausend Pfund bekämen. Es ist die scheußlichste Mördergrube auf dieser ganzen Uferseite, und ich fürchte sehr, daß Neville St. Clair hier hineingeraten ist, um nie wieder herauszukommen.« Damit steckte er beide Zeigefinger zwischen die Zähne und ließ einen schrillen Pfiff ertönen, dem ein ähnlicher aus einiger Entfernung antwortete, worauf sich Rädergerolle und Pferdegetrappel hören ließen. »Nun, wie ist’s, Watson«, fragte Holmes, als ein großer Jagdwagen aus der Dunkelheit auftauchte, dessen Seitenlaternen zwei lange goldene Lichtstreifen vor sich herwarfen. »Du gehst doch mit?«
»Gern, wenn ich dir nützlich sein kann.«
»Ein treuer Freund ist immer nützlich und vollends noch, wenn er zugleich ein Mann der Feder ist. Mein Zimmer ›zu den Cedern‹ hat zwei Betten.«
»Zu den Cedern?«
»Ja, nämlich in St. Clairs Haus, denn dort wohne ich, solange meine Nachforschungen dauern.«
»Wo liegt es denn?«
»Bei Lee in Kent. Wir haben eine Fahrt von sieben Meilen vor uns.«
»Aber ich weiß ja von gar nichts.«
»Natürlich, doch wirst du bald alles erfahren. Sitze nur auf. Schon gut, Johann, wir kutschieren selbst. Hier ein Trinkgeld. Morgen gegen elf Uhr können Sie mich erwarten. So, jetzt lassen Sie los, und nun vorwärts!«
Er versetzte dem Pferd einen leichten Schlag mit der Peitsche, und wir flogen dahin durch die endlosen, dunklen, einsamen Straßen, die sich allmählich erweiterten, bis wir über eine breite Brücke sausten, unter der der schlammige Fluß träge dahinfloß. Auch drüben dasselbe Häusermeer; nichts als der gleichmäßige Schritt der Schutzleute oder das Johlen verspäteter Nachtschwärmer unterbrach die nächtliche Stille. Eine dunkle Wolkenmasse zog langsam am Himmel dahin, und nur matt schimmerte da und dort ein Stern durch das Gewölk auf. Schweigend lenkte Holmes das Gefährt, den Kopf auf die Brust gesenkt und mit dem Ausdruck eines Mannes, der ganz in Gedanken verloren ist, während ich neben ihm saß, gespannt, zu erfahren, was für ein neuer Fall das wohl sein mochte, der seinen Geist so vollständig in Anspruch nahm, und doch getraute ich mir nicht, seinen Gedankengang zu unterbrechen. Wir waren schon verschiedene Meilen gefahren und gelangten an den äußern Gürtel der Vorstadtvillen, als sich Holmes aufraffte, die Achseln zuckte und seine Pfeife in Brand steckte mit der Miene eines Menschen, der mit sich zufrieden ist, im Bewußtsein, daß er tut, was in seinen Kräften steht.
»Dir ward die schöne Gabe des Schweigens verliehen, Watson«, sagte er, »und das macht dich zu einem geradezu unschätzbaren Gefährten. Auf Ehre, für mich ist es von größtem Wert, jemand zu haben, gegen den ich mich aussprechen kann, denn meine eigenen Gedanken sind nicht gerade ergötzlicher Art. Eben überlegte ich mir, was ich dem guten Frauchen wohl sagen sollte, wenn sie mir heute Abend entgegentritt.«
»Du vergissest, daß ich ja von gar nichts weiß.«
»Es bleibt jetzt gerade noch Zeit genug, bis wir nach Lee kommen, um dir die Einzelheiten des Falles zu erzählen. Er sieht sich lächerlich einfach an, und doch weiß ich nicht, was ich damit anstellen soll. Fäden gibt es in Menge, aber das richtige Ende vermag ich nicht zu finden. Laß dir also die Sache klar und deutlich auseinandersetzen, Watson, möglich, daß dir vielleicht ein Licht aufgeht, wo für mich alles dunkel ist.«
»So fange nur an.«
»Vor einigen Jahren, oder genauer gesagt, vor sechs Jahren, kam ein Herr, Namens Neville St. Clair, nach Lee, der allem Anscheine nach in sehr guten Verhältnissen war. Er bezog eine große Villa, legte geschmackvolle Gärten an und lebte in jeder Beziehung auf großem Fuße. Allmählich gewann er Freunde in der Nachbarschaft und heiratete vor drei Jahren die Tochter eines dort ansässigen Bierbrauers, die ihn seitdem mit zwei Kindern beschenkt hat. Einen eigentlichen Beruf hatte er nicht, doch war er bei verschiedenen Unternehmungen beteiligt und ging in der Regel des Morgens zur Stadt und kehrte des Abends mit dem 5 Uhr 14-Zuge wieder zurück. Herr St. Clair ist jetzt siebenunddreißig Jahre alt, ein Mann von soliden Lebensgewohnheiten, ein guter Ehegatte, zärtlicher Vater und bei allen beliebt, die ihn kennen. Ich kann noch hinzufügen, daß, soweit es sich ermitteln ließ, seine ganze Schuldenlast sich zur Zeit auf achtundachtzig Pfund und zehn Schilling beläuft, während sein Bankguthaben zweihundertundzwanzig Pfund beträgt. Es liegt darum auch kein Grund zur Annahme vor, daß ihn etwa Geldsorgen bedrückt hätten.
Am letzten Montag fuhr Herr Neville St. Clair etwas früher als gewöhnlich zur Stadt, nachdem er zuvor geäußert, daß er zwei wichtige Geschäfte zu erledigen habe, und daß er seinem Söhnchen einen Baukasten mitbringen wolle. Am selben Morgen, ganz kurz nach St. Clairs Weggang, erhielt seine Frau die Drahtnachricht, daß ein von ihr erwartetes Paketchen von beträchtlichem Werte auf dem Postamt der Aberdeen-Schiffsgesellschaft abgeholt werden könne. Wenn du dich in deinem London gut auskennst, dann weißt du, daß die Geschäftsräume dieser Gesellschaft in der Fresnostraße liegen, die in die Obere Swandamstraße mündet, wo du mich heute nacht getroffen hast.