Eines Abends, so um die Zeit, wo der Mensch anfängt zu gähnen und nach der Uhr zu sehen, wurde an meinem Hause heftig geklingelt. Ich fuhr in die Höhe, und meine Frau ließ mit verstimmtem Gesicht ihre Handarbeit in den Schoß sinken. »Ein Kranker«, sagte sie. »Du wirst nochmals fortgehen müssen.«
Ich seufzte, denn soeben war ich von schwerem Tagewerk heimgekehrt.
Wir hörten die Haustüre gehen, vernahmen ein paar hastige Worte und dann rasche Schritte auf dem Linoleum. Unsere Zimmertür flog auf, und herein trat eine dunkel gekleidete, schwarz verschleierte Dame.
»Entschuldigen Sie meinen späten Besuch«, begann sie, doch plötzlich allen Halt verlierend, stürzte sie auf meine Frau zu und warf sich ihr schluchzend um den Hals.
»Ach, ich bin in entsetzlicher Lage!« rief sie aus, »und bedarf dringend des Beistandes.«
»Was, das ist Käte Whitney?« sagte meine Frau und schlug ihrem Gaste den Schleier zurück. »Wie du mich aber erschreckt hast, Käte! Als du hereinkamst, hatte ich keine Ahnung, wer du seist.«
»Ach, ich wußte keinen andern Ausweg, als zu dir zu flüchten.«
Es war die alte Geschichte; jeder, der in Not war, kam zu meiner Frau, wie die Vögel zum Leuchtturm fliegen.
»Wie lieb von dir, daß du gekommen bist. Jetzt trinke nur erst ein Glas Wein mit Wasser und setze dich behaglich her, dann erzählst du uns alles. Oder möchtest du lieber, daß ich James zu Bett schicke?«
»Nein, gewiß nicht! denn ich bedarf auch des Doktors Rat und Beistand. Es handelt sich um meinen Mann. Seit zwei Tagen ist er nicht mehr nach Hause gekommen, und ich bin in entsetzlicher Angst um ihn!«
Nicht zum erstenmal sprach sie mit uns von ihrem Kummer um den Gatten, mit mir als Arzt und mit meiner Frau als alter Freundin und Vertrauten noch von der Schule her. Wir beruhigten und trösteten sie nach Kräften. Ich fragte, ob sie wisse, wo sich ihr Gatte aufhalte; ob wir ihr helfen könnten, ihn nach Hause zu schaffen.
Es schien so. Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß er in letzter Zeit, wenn ihn der krankhafte Drang überkam, eine Opiumhöhle im entferntesten Osten der Stadt aufgesucht habe. Bisher hatten sich seine Orgien immer nur auf einen Tag beschränkt, worauf er dann wankend und gebrochen am Abend heimkehrte. Aber diesmal war er schon seit zweimal vierundzwanzig Stunden im Banne seiner Leidenschaft und lag ohne Zweifel irgendwo, um das Gift in sich aufzunehmen oder dessen Folgen zu verschlafen. Dort in der »Goldschenke« in der Oberen Swandamstraße wäre er, meinte sie, sicherlich zu finden. Aber was könnte sie da tun? Wie sollte sie, die junge, ängstliche Frau, in einen solchen Ort eindringen und ihren Gatten aus der Mitte des Gesindels, das sich dort aufhielt, herausholen?
So lagen die Dinge, und in der Tat gab es nur einen einzigen Ausweg. Ob ich sie nicht dorthin begleiten wollte? Oder – ob es am Ende besser wäre, ich ginge allein?
Ich sei ja ihres Mannes ärztlicher Ratgeber und besäße als solcher Einfluß auf ihn. Ich wäre viel unbehinderter in allem. Ich gab ihr mein Wort darauf, ihn binnen zwei Stunden in einem Wagen heimzusenden, vorausgesetzt, daß ich ihn wirklich an dem von ihr bezeichneten Orte fände. Und zehn Minuten später hatte ich auch schon den Lehnstuhl und das behagliche Wohnzimmer im Rücken und fuhr davon in einer Angelegenheit, die mir von vornherein höchst absonderlich vorkam, wenn sich auch erst später herausstellte, wie absonderlich sie in der Tat werden sollte.
Der erste Teil meiner Expedition ging ohne Schwierigkeit von statten. Die Obere Swandamstraße ist eine häßliche Gasse, die hinter den großen Lagerhäusern steckt, welche sich an der Nordseite der Themse bis östlich von London-Bridge hinziehen. Zwischen einer Trödelbude und einer Schnapskneipe führte eine steile Treppe zu einem Loche, finster wie ein Kellerschacht, und damit hatte ich die gesuchte Spelunke gefunden. Ich hieß den Fahrer warten und stieg die Stufen hinab, die von dem unausgesetzten Wandel trunkener Füße in der Mitte stark ausgetreten waren. Beim flackernden Schein einer Öllampe über der Tür fand ich die Klinke und trat in einen langen niedrigen Raum, der von braunem Opiumrauch dick angefüllt und wie das Zwischendeck eines Auswanderungsschiffes mit übereinander geschichteten hölzernen Pritschen ausgestattet war.
In all dem Qualm vermochte man kaum die Gestalten zu erkennen, die in sonderbar phantastischen Stellungen umherlagen, mit eingezogenen Achseln, gekrümmten Knieen, zurückgeworfenem Kopfe und aufwärts gekehrtem Kinn. Ab und zu richtete sich ein dunkles, glanzloses Auge auf den Ankömmling. Aus den düsteren Schatten glommen kleine rote Lichtstreifen auf, bald heller, bald matter, je nachdem das brennende Gift in den Köpfen der Metallpfeifen zu-oder abnahm. Die meisten der Leute lagen stumm da; doch murmelten einzelne vor sich hin, während andere wieder mit seltsam leiser, eintöniger Stimme sich miteinander unterhielten, die Sätze heftig hervorstoßend, um dann plötzlich in Schweigen zu versinken; jeder spann an seinen eigenen Gedanken weiter, ohne sich viel an das Gerede des Nachbarn zu kehren. Am andern Ende des Raumes stand ein kleines Becken mit glühenden Kohlen, neben dem ein hagerer alter Mann auf einem dreibeinigen Stuhle saß. Er hatte das Kinn auf die Fäuste und die Ellenbogen auf die Kniee gestützt und blickte starr in die Glut.
Bei meinem Eintritt sprang ein schmutziger Malaie mit einer Pfeife und einem Quantum Opium auf mich zu und wollte mir eine leere Lagerstelle anweisen.
»Ich danke Ihnen, meine Absicht ist nicht zu bleiben«, sagte ich. »Ein Freund von mir, Herr Isa Whitney, befindet sich hier, und diesen wünsche ich zu sprechen.«
Bei diesen Worten bewegte sich etwas zu meiner Rechten, und ich vernahm einen Ausruf. Ich sah hin und erkannte in dem Dunst Whitney, der blaß und verstört mit wirren Haaren dasaß und mich anstierte.
»Mein Gott, Sie sind’s, Watson!« sagte er. Er war in einem kläglichen Zustand der Nachwirkung des Giftes, und jeder Nerv an ihm zitterte.
»Wieviel Uhr ist es denn, Watson?«
»Bald elf.«
»Und welchen Tag haben wir?«
»Freitag, den 19. Juni.«
»Gerechter Gott! Ich glaubte, es sei Mittwoch. Und es ist auch Mittwoch. Wie können Sie einen armen Kerl nur so erschrecken?« Mit diesen Worten begrub er sein Gesicht in den Händen und begann laut zu schluchzen.
»Ich versichere Sie, daß es wirklich Freitag ist, Sie Mann des Jammers. Ihre Frau wartet nun seit zwei Tagen auf Sie. Sie sollten sich vor sich selber schämen!«
»Das tue ich auch. Aber Sie täuschen sich, Watson, denn ich bin erst seit ein paar Stunden hier, drei – vier Pfeifen etwa – ich weiß nicht mehr, wie viele. Doch ich will mit Ihnen nach Hause gehen, denn ich möchte Käte, mein armes, liebes Kätchen, nicht ängstigen. Geben Sie mir Ihre Hand! Haben Sie einen Wagen hier?«
»Ja, er wartet draußen.«
»Dann will ich ihn benutzen. Doch, ich muß noch etwas schuldig sein. Sorgen Sie doch dafür, Watson. Ich bin ganz verwirrt und unfähig, mir selbst zu helfen.«
Um der Einwirkung der abscheulichen, betäubenden Giftdämpfe zu entgehen, schritt ich mit angehaltenem Atem den schmalen Gang zwischen der Doppelreihe von Schläfern entlang und suchte nach dem Wirt. Als ich an der hageren Gestalt bei dem Kohlenbecken vorüberkam, fühlte ich mich am Rockschoß gezupft, und eine leise Stimme flüsterte mir zu: »Gehe an mir vorüber, und dann sieh dich nach mir um.« Diese Worte trafen mein Ohr ganz deutlich. Ich blickte auf. Sie konnten nur von dem Alten neben mir herrühren, und doch saß er so geistesabwesend, schlotterig und vom Alter gebeugt da wie zuvor; seine Opiumpfeife baumelte ihm zwischen den Knieen, als wäre sie eben den schlaffen Fingern entglitten. Ich ging zwei Schritte weiter und sah zurück. Und nun bedurfte ich meiner ganzen Selbstbeherrschung, um nicht einen Schrei maßlosen Erstaunens auszustoßen. Er hatte sich so umgewendet,