Gesammelte Werke: Kriminalromane + Detektivgeschichten + Historische Romane. Arthur Conan Doyle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Conan Doyle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026850861
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er Fräulein Sutherland sitzen ließ?«

      Ich hatte kaum ausgesprochen und Holmes noch nicht geantwortet, als sich auf dem Flur ein schwerer Tritt vernehmen ließ und an der Tür geklopft wurde.

      »Das ist Windibank, der Stiefvater«, sagte Holmes. »Er schrieb mir, er würde sich um sechs Uhr bei mir einfinden. Herein!«

      Der Eintretende, ein handfester, mittelgroßer Mann von etwa dreißig Jahren, war glatt rasiert, hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe und ein paar auffallend lebendige, durchbohrende graue Augen; sein Wesen war verbindlich, fast untertänig. Er warf einen fragenden Blick auf uns, stellte seinen glänzenden Zylinderhut auf den Nebentisch und nahm mit einer leichten Verbeugung auf dem nächsten Stuhle Platz.

      »Guten Abend, Herr Windibank«, empfing ihn Holmes. »Ich setze voraus, daß dieser mit der Maschine geschriebene Brief, wodurch Sie sich auf sechs Uhr anmelden, von Ihnen stammt.«

      »Ganz recht. Fast fürchte ich, mich etwas verspätet zu haben, doch bin ich nicht ganz Herr meiner Zeit. Ich bedaure, daß Fräulein Sutherland Sie mit dieser Kleinigkeit belästigt hat – schmutzige Wäsche wäscht man am besten zu Hause. Sie kam gegen meinen Wunsch und Willen; Sie haben wohl bemerkt, daß das junge Mädchen etwas aufgeregter, leidenschaftlicher Natur ist und durchsetzt, was sie einmal will. Da Sie keine amtliche Gerichtsperson sind, so hat es weniger auf sich, daß Sie eingeweiht wurden, – aber jedenfalls ist es höchst unangenehm, wenn ein derartiges unglückliches Familienereignis weiter verbreitet wird; nebenbei macht es nur unnötige Kosten, denn wie sollten Sie diesen Hosmer Angel auftreiben können?«

      »Im Gegenteil«, versetzte Holmes gelassen, »ich habe die beste Aussicht, den Herrn entdecken zu können.«

      Windibank erschrak sichtlich und ließ seine Handschuhe fallen. »Wirklich! das freut mich sehr«, sagte er.

      »Es ist doch merkwürdig«, warf Holmes ein, »daß die Maschinenschrift so gut ihre Eigenart hat, wie die Handschrift eines Menschen. Sobald die Maschinen nicht mehr ganz neu sind, schreiben nicht zwei vollkommen gleich. Manche Buchstaben wetzen sich schneller ab als andere, einzelne auch nur auf einer Seite. Sehen Sie selbst, Herr Windibank, hier in Ihrem Briefchen ist das ›e‹ nie ganz rein, und auch am ›r‹ fehlt etwas. Noch vierzehn andere Merkmale sind vorhanden, doch treten diese beiden am deutlichsten hervor.«

      »Wir bedienen uns dieser Maschine für unsere ganze Korrespondenz im Geschäft, und so ist sie selbstverständlich etwas abgenutzt«, erwiderte Windibank und richtete seine lebhaften, kleinen Augen forschend auf Holmes.

      »Und nun will ich Ihnen eine recht interessante Wahrnehmung mitteilen«, fuhr mein Freund fort. »Ich gedenke dieser Tage eine kleine Arbeit über die Maschinenschrift in ihren Beziehungen zum Verbrechen herauszugeben, nachdem ich mich mit diesem Gegenstand in letzter Zeit etwas beschäftigt habe. Hier sind vier Briefe, die von dem Vermißten stammen sollen. Alle vier sind mit der Schreibmaschine geschrieben. In jedem dieser Briefe ist nicht allein das ›e‹ defekt und das ohne Abschluß, sondern Sie werden, wenn Sie meine Lupe gefälligst zu Hilfe nehmen wollen, auch sehen, daß sich darin die andern vierzehn Merkmale wiederfinden, von denen ich sprach.«

      Hastig sprang Windibank auf und griff nach seinem Hut. »An derartige Beobachtungen und Unterhaltungen kann ich meine Zeit unmöglich verschwenden, Herr Holmes. Können Sie den Mann fangen, so tun Sie es und benachrichtigen Sie mich davon, wenn es geschehen ist.«

      »Gewiß«, versetzte Holmes, ging zur Tür und schloß sie ab. »So teile ich Ihnen denn mit, daß ich ihn habe.«

      »Was! wo?« stieß Windibank hervor.

      »Lassen Sie es nur gut sein, es hilft alles nichts«, meinte Holmes freundlich und gelassen. »Sie kommen nicht durch, Herr Windibank. Die Sache liegt gar zu klar, und Sie machen mir ein schlechtes Kompliment mit der Behauptung, daß ich unmöglich ein so einfaches Rätsel lösen könne. Setzen Sie sich nur gefälligst und lassen Sie uns das Weitere besprechen.«

      Wie gebrochen sank unser Besucher in seinen Sessel zurück, der Angstschweiß perlte ihm auf der Stirn. »Man kann mir nichts anhaben!« stieß er mühsam hervor.

      »Leider nicht. Aber, Herr Windibank, unter uns gesagt, ein solch herzloser, grausamer, selbstsüchtiger Streich hat mir kaum jemals vorgelegen. Lassen Sie mich kurz den Tatbestand erörtern, und belehren Sie mich, wenn ich fehlgehe.«

      Völlig geknickt saß der Mann da und senkte den Kopf tief herab auf die Brust. Holmes streckte die Beine weit von sich, lehnte sich zurück, versenkte seine Hände in die Rocktaschen und fing an, mehr mit sich selbst als mit uns zu sprechen.

      »Der Mann heiratet eine Frau um des Geldes willen«, sagte er, »und vom Gelde der Tochter hat er die Nutznießung, solange sie im elterlichen Hause bleibt. Für Leute in ihrer Lage war die Summe bedeutend, und ihr Ausfall hätte sich sehr fühlbar gemacht. Die Tochter, ein gutes, freundliches Wesen, bedurfte mit ihrem warmen Herzen der Liebe, und so stand zu erwarten, daß sie bei ihren persönlichen Reizen und ihrem Einkommen nicht lange unbegehrt bleiben würde. Da nun ihre Heirat für den Stiefvater den Verlust einer jährlichen Einnahme von hundert Pfund bedeutete, entschloß sich dieser, eine solche zu verhindern. Wodurch? Vorerst will er sie ans Haus fesseln und verbietet ihr, die Gesellschaft von jungen Leuten aufzusuchen. Bald aber sieht er ein, daß sich das unmöglich durchführen läßt. Das Mädchen widersetzt sich, beharrt auf ihren Rechten und erklärt kurz und bündig, einen bestimmten Ball besuchen zu wollen. Was tut da der geschickte Stiefvater? Es fällt ihm ein Aushilfsmittel ein, das seinem Kopf mehr zur Ehre gereicht als seinem Herzen: Im Einverständnis mit seiner Frau und mit deren Hilfe verkleidet er sich, verbirgt seine zu lebhaften Augen hinter dunklen Gläsern, legt einen falschen Schnurr-und Backenbart an, dämpft seine klare Stimme und flüstert nur leise; er baut getrost auf die Kurzsichtigkeit des Mädchens, erscheint als Herr Hosmer Angel und verscheucht die Kurmacher, indem er selbst die Kur schneidet.«

      »Erst war es nur ein Spaß«, seufzte unser Besucher. »Wir ahnten nicht, daß sie gleich Feuer fangen würde.«

      »Das mag wohl sein. Nichtsdestoweniger fiel das junge Mädchen gründlich hinein, und da sie fest glaubte, ihr Stiefvater sei in Frankreich, dachte sie nicht daran, Argwohn zu schöpfen. Die Artigkeiten des jungen Mannes schmeichelten ihr, und die Lobeserhebungen der Mutter machten sie noch eindrucksvoller. Dann machte Herr Angel seinen Besuch, denn die Kurmacherei mußte bis zu einem gewissen Punkt getrieben werden, sollte sie einen wirklichen Erfolg haben. Es folgten Zusammenkünfte und eine Verlobung, die schließlich die Neigung der jungen Dame von jeder anderen Persönlichkeit ablenken sollte. Auf die Dauer ließ sich die Täuschung nicht aufrechterhalten. Die vorgespiegelten Reisen nach Frankreich wurden unbequem. Der einzige Ausweg war, eine tragische Lösung herbeizuführen, die auf das junge Mädchen einen so tiefen, bleibenden Eindruck machen mußte, daß ihr auf längere Zeit hinaus alle Heiratsgedanken vergingen. Darum jener Schwur der Treue auf die Bibel, darum die Andeutungen auf ein mögliches Hindernis noch am Hochzeitsmorgen. James Windibank wünschte Fräulein Sutherland so fest an Hosmer Angel zu binden und sie über dessen Los so in Unsicherheit zu lassen, daß sie unbedingt in den nächsten zehn Jahren keinen andern Mann erhören sollte. Bis an die Kirchentür hat er sie gebracht, und da er nicht weiter gehen durfte, verduftete er im richtigen Augenblick; er bediente sich des alten Kniffes, zu einer Wagentür hinein-, zur anderen herauszuspringen. In dieser Weise, glaube ich, daß die Ereignisse etwa aufeinander gefolgt sind.«

      Windibank hatte, während Holmes sprach, etwas von seiner Sicherheit wieder erlangt; jetzt stand er auf, es lag kalter Hohn auf seinen blassen Zügen.

      »Das alles mag sein, mag aber auch nicht sein, Herr Holmes«, sagte er, »wenn Sie aber gar so klug sind, so sollten Sie auch wissen, daß Sie jetzt wider das Gesetz handeln – ich aber nicht. Ich habe vom ersten Anfang an nichts Gesetzwidriges getan, solange Sie aber diese Tür verschlossen halten, machen Sie sich der Vergewaltigung und der Freiheitsberaubung gegen mich schuldig.«

      »Das Gesetz kann Sie nicht fassen, Sie haben recht«, erwiderte Holmes, schloß die Tür auf und öffnete sie weit »und doch hat nie ein Mann die Strafe mehr verdient als Sie. Besitzt die junge Dame einen Bruder oder einen Freund, so sollte der die Reitgerte auf Ihren Schultern tanzen lassen. Wahrhaftig!«