»Nun, wenn Sie mir diese Versicherung geben, Herr Jones, dann bin ich beruhigt«, sagte Merryweather. »Ich gestehe indessen, daß mir meine Partie Sechsundsechzig [sic!] schon lieber wäre. Es ist seit siebenundzwanzig Jahren der erste Samstagabend, wo ich mein Spielchen nicht mache.«
»Mich dünkt«, sprach Sherlock Holmes, »Sie werden selbst bald erkennen, daß Sie heute um höheren Einsatz spielen als je bisher, auch wird das Spiel aufregender sein. Für Sie, Herr Merryweather, handelt es sich um etliche dreißigtausend Pfund, und für Sie, Jones, um den Mann, den Sie gern beim Kragen kriegen möchten.«
»Ja, ja, dieser John Clay«, fiel ihm der Polizeiagent ins Wort, »ein Mörder, Dieb, Falschmünzer, Schriftfälscher und dabei noch ein junger Mann, versteht sein Geschäft gründlich. Keinem Spitzbuben Londons legte ich die Handschellen lieber an als ihm. Ein merkwürdiger Mensch ist dieser junge John Clay. Sein Großvater war ein Herzog, und er selbst studierte in Eton und Oxford. Er hat einen klugen Kopf und geschickte Hände; alle Augenblicke begegnen wir seinen Spuren, dem Mann selbst aber niemals. Seit Jahren bin ich ihm auf der Fährte, habe ihn aber noch nie zu sehen bekommen.«
»Ich hoffe das Vergnügen zu haben, Ihnen den Schurken heute nacht vorzustellen«, – versicherte jetzt Holmes. »Auch ich habe bereits mit John Clay ein Hühnchen gerupft und stimme mit Ihnen überein: Der Mann versteht sein Geschäft. Doch, es ist zehn vorüber und die höchste Zeit aufzubrechen. Wollen Sie beide den ersten Wagen benützen, so folgen Watson und ich im zweiten.«
Mein Freund zeigte sich nicht sehr mitteilsam während der langen Fahrt; er lag zurückgelehnt im Wagen und summte die Melodien, die er am Nachmittag gehört hatte. Wir rasselten durch ein endloses Labyrinth hell erleuchteter Straßen, bis wir nach Farringdonstreet gelangten.
»Jetzt sind wir ganz in der Nähe«, bemerkte mein Freund. »Merryweather ist Bankdirektor und hat ein persönliches Interesse an der Sache. Ich hielt es für gut, auch Jones dabei zu haben. Er ist ein ordentlicher Mensch, in seinem Beruf aber ein richtiger Dummkopf. Eine entschiedene Tugend besitzt er: Der Kerl ist mutig wie ein Bullenbeißer und hält fest wie ein Hummer, wenn er einen zwischen die Scheren kriegt. Wir sind jetzt da, und sie erwarten uns bereits.«
Wir befanden uns jetzt in derselben belebten Querstraße, wo wir am Morgen gewesen waren. Unsere Wagen wurden fortgeschickt; Merryweathers Führung folgend, gingen wir einen schmalen Gang hinab und durch eine Seitentür, die er uns öffnete. Hinter derselben lag ein kleiner Korridor, der auf ein schweres, eisernes Tor mündete. Auch dieses wurde geöffnet, und man gelangte von da über eine steinerne Wendeltreppe abermals vor ein starkes Tor. Merryweather blieb stehen, um seine Laterne zu nehmen; dann führte er uns hinab durch einen dunklen, mit Erdgeruch erfüllten Gang, öffnete eine dritte Türe, durch welche wir in ein weites Gewölbe, eine Art Keller, eintraten. Ringsumher waren hier große Körbe und schwere Kisten aufgetürmt.
»Von oben her sind sie ja ziemlich geschützt«, bemerkte Holmes, als er die Laterne aufhob und um sich blickte.
»Von unten nicht weniger«, versetzte Merryweather und schlug mit dem Stock auf die Fliesen am Boden. »Ei was! das klingt ja ganz hohl!« bemerkte er, erstaunt aufblickend.
»Ich muß Sie ernstlich bitten, sich etwas ruhiger zu verhalten«, sagte Holmes streng. »Sie haben bereits den ganzen Erfolg unserer Expedition gefährdet. Darf ich Sie bitten, sich gefälligst auf eine dieser Kisten hinzusetzen und sich nicht weiter zu mucksen.«
Mit sehr gekränktem Ausdruck schwang sich der stattliche Herr Merryweather auf einen Korb, während Holmes am Boden niederkniete und anfing mit der Laterne und einem Vergrößerungsglas die Sprünge zwischen den Steinen zu untersuchen. Wenige Sekunden genügten ihm, dann sprang er auf und steckte sein Glas in die Tasche.
»Wir haben wenigstens eine Stunde vor uns«, bemerkte er, »denn sie können doch kaum irgend etwas unternehmen, ehe der gute Trödler glücklich im Bett liegt. Dann werden sie keine Minute verlieren, denn, je früher sie die Arbeit beginnen, umsomehr Zeit bleibt ihnen zum Entkommen. Wir befinden uns jetzt, wie du wohl längst erraten hast, Watson, im Keller des City-Zweiggeschäftes einer Hauptbank Londons. Herr Merryweather ist Vorsitzender des Direktoriums und wird dir gern erklären, aus welchen Gründen die kecksten Einbrecher von London eben jetzt ein bedeutendes Interesse an diesem Keller haben.«
»Wegen unseres argentinischen Goldes«, flüsterte der Direktor. »Wir wurden mehrfach gewarnt, es sei ein Anschlag darauf im Gange.«
»Ihr argentinisches Gold?« [Im englischen Original ist hier von »französischem« Gold die Rede. (Anm. d. E-Pub-Redakt.)]
»Ja. Wir hatten vor einigen Monaten Veranlassung, unseren Barvorrat zu erhöhen und liehen zu diesem Zweck dreißigtausend Goldstücke aus der dortigen Staatsbank. Es ist bekannt geworden, daß wir nachher nicht nötig hatten, das Geld auszupacken, und daß es noch immer in unserm Keller ruht. Der Korb, auf dem ich sitze, enthält zweitausend Goldstücke, die zwischen Staniolpapier liegen. Unser Vorrat an ungemünztem Gold ist augenblicklich weit größer, als er sonst auf einer einzelnen Filiale aufbewahrt wird, und den Direktoren war nicht mehr recht wohl bei der Sache.«
»Was freilich sehr begreiflich ist«, bemerkte Holmes. »Doch nun ist’s Zeit, unsere kleinen Rollen zu verteilen. Ich erwarte, daß sich die Dinge innerhalb der nächsten Stunde abspielen. Inzwischen, Herr Merryweather, müssen wir unser Licht abblenden.«
»Und im Dunkeln sitzen?«
»Ich fürchte ja. Ich habe ein Spiel Karten in die Tasche gesteckt, weil ich dachte, da wir zu viert sind, könnten Sie schließlich doch zu Ihrem Spielchen kommen. Aber ich sehe leider, daß die Vorbereitungen des Feindes bereits so weit gediehen sind, daß wir nicht wagen dürfen, Licht zu zeigen. Vor allem gilt es, unsere Stellungen zu wählen. Wir haben es mit waghalsigen Leuten zu tun, und packen wir sie auch in einer für sie nachteiligen Lage, so könnten sie uns doch gefährlich werden, wenn wir nicht vorsichtig sind. Ich stelle mich hinter diesen Korb, verbergen Sie sich hinter jenem. Wenn ich dann den Lichtstrahl auf den Feind werfe, greifen Sie schnell ein; geben Sie Feuer, und auch du, Watson, mach’ dir kein Gewissen daraus, sie niederzuschießen.«
Ich legte meinen Revolver mit gezogenem Hahn oben auf die Holzkiste, hinter die ich kroch. Holmes übernahm die Laterne, blendete ab, und es wurde stockfinster – eine so totale Finsternis habe ich nie zuvor erlebt. Der Geruch des heißen Metalls allein überzeugte uns, daß noch Licht da sei und im rechten Augenblick erscheinen konnte. Meine Nerven waren durch die Erwartung so aufgeregt, daß mich das plötzliche Dunkel und die kalte, feuchte Kellerluft förmlich niederdrückten und beängstigten.
»Es bleibt den Gaunern nur ein Ausweg«, flüsterte Holmes; »nämlich zurück durch das Haus im Saxe-Coburg-Square. Hoffentlich haben Sie getan, um was ich Sie bat, Jones.«
»Ich habe einen Inspektor und zwei Offiziere an die Haupttür postiert.«
»So sind denn alle Löcher verstopft. Und nun gilt es zu schweigen und zu warten.«
Welche Ewigkeit! Nachher zeigte es sich, daß wir nur fünf viertel Stunden gewartet hatten, und doch schien es mir, die Nacht müsse ziemlich vorüber sein und die Dämmerung über uns anbrechen. Meine Glieder waren steif und müde; ich wagte es nicht, mich zu rühren, meine Nerven spannten sich mehr und mehr an, mein Gehör schärfte sich so, daß ich nicht allein das ruhige Atmen meiner Gefährten vernahm, sondern sogar die tieferen, schweren Atemzüge des dicken Jones von dem leisen Gestöhn des Bankdirektors zu unterscheiden vermochte. Von meinem Platz aus konnte ich über die Kiste hinweg auf die Steine am Boden sehen. Plötzlich gewahrte ich einen winzigen Lichtstreifen.
Erst zeigte sich nur ein fahler Schein auf den Steinfliesen; bald verlängerte sich dieser zu einem gelben Streifen, und ohne jeglichen Laut oder sonstiges Vorzeichen öffnete sich ein Spalt. Eine Hand erschien – eine zarte, weiße Hand, fast eine Frauenhand, die im Zentrum des kleinen Lichtkreises umhertastete. Etwa eine Minute lang ragte die Hand mit den