»Herr Sherlock Holmes, nicht wahr?« fragte sie.
Mein Freund warf ihr einen fragenden, ja bestürzten Blick zu. »Allerdings, ich bin Herr Holmes.«
»Wirklich! Meine Herrin hat mich schon auf Ihr wahrscheinliches Kommen vorbereitet. Sie ist heute früh in Begleitung ihres Gatten mit dem 5.15-Zuge von Charing Cross nach dem Kontinent abgereist.«
»Was?« Bleich bis in die Lippen fuhr Sherlock Holmes zurück. »Wollen Sie damit sagen, daß sie England verlassen hat?«
»Ja, für immer.«
»Und die Papiere?« fragte der Fürst heiser. »Also alles verloren?«
»Wir müssen zusehen.« Er schob die Dienerin zur Seite und eilte ins Zimmer, der Fürst und ich folgten ihm auf dem Fuße. Die Möbel standen verschoben und unordentlich im Zimmer umher, die offenstehenden Schränke und Schubladen schienen vor der plötzlichen Abreise noch schnell durchwühlt und teilweise geleert zu sein. Holmes flog zum Klingelgriff, schob ein kleines Türchen in die Täfelung zurück und zog eine Photographie und einen Brief aus der Öffnung. Das Bild zeigte Irene Adler in Gesellschaftstoilette, der Brief war an Herrn Sherlock Holmes adressiert. Mein Freund riß den Umschlag auf, und wir lasen ihn alle drei gleichzeitig. Er war um Mitternacht des vorigen Tages geschrieben und lautete folgendermaßen:
Mein lieber Herr Holmes!
Sie führten Ihre Rolle wirklich bewunderungswürdig durch, und es gelang Ihnen vollständig, mein Vertrauen zu gewinnen. Bis der Feuerlärm vorüber war, hegte ich nicht den geringsten Argwohn, doch dann sah ich ein, daß ich mich verraten hatte, und wurde nachdenklich. Vor Monaten wurde ich schon vor Ihnen gewarnt, und Sie mir als der einzige bezeichnet, den der Fürst als Agenten verwenden würde. Ihre Adresse erfuhr ich ebenfalls. Doch dies alles bringt mich auf Ihren Wunsch zurück. Anfangs schämte ich mich meines Mißtrauens gegen einen so liebenswürdigen, alten Prediger, aber Sie wissen, ich bin selbst Schauspielerin gewesen und verstehe mich daher auf eine gute Maske. Ich habe sogar oft genug selbst von Verkleidungen Gebrauch gemacht. Ich schickte meinen Diener John als Aufpasser ins Zimmer und warf mich oben in meinen ›Wanderanzug‹, wie ich ihn nenne. Ich wurde noch rechtzeitig fertig, um Ihnen bis zu Ihrer Haustür folgen zu können und mich selbst zu überzeugen, daß ich für den berühmten Herrn Holmes ein Gegenstand des Interesses sei. Unvorsichtig wünschte ich Ihnen sogar ›Gute Nacht‹ und beeilte mich meinen Gatten aufzusuchen. Wir hielten es beide für das beste, uns einem so furchtbaren Gegner durch die Flucht zu entziehen. Sie werden daher morgen nur ein leeres Nest vorfinden. Wegen des Bildes mag Ihr Klient völlig beruhigt sein. Ich liebe und werde von einem viel edleren Manne, als er ist, geliebt. Der Fürst mag völlig nach seinem Belieben handeln, ich werde ihm, trotz seiner schweren Schuld gegen mich, nicht mehr in den Weg treten. Das Bild behalte ich in meiner sicheren Hut, es soll mich nur gegen spätere Angriffe schützen. Ich hinterlasse eine Photographie, auf deren Besitz der Fürst vielleicht Wert legt, und verbleibe, lieber Herr Sherlock Holmes, für immer Ihre ergebene
Irene Norton, geb. Adler.
»Welch eine Frau – nein, welch eine Frau«, rief der Fürst, als wir das Schriftstück beendet hatten. »Sagte ich Ihnen nicht, wie schnell und entschlossen sie handelt? Würde sie nicht eine großartige Fürstin geworden sein? Es ist ein Jammer, daß sie nicht mit mir auf gleicher Höhe steht!«
»Nach dem, was ich von ihr gesehen habe, scheint sie mir allerdings einen ganz anderen Standpunkt einzunehmen als Eure Hoheit«, äußerte Holmes kühl. »Ich bedaure nur, die Angelegenheit nicht zu einem besseren Abschluß gebracht zu haben.«
»Im Gegenteil, mein lieber Herr«, rief der Fürst lebhaft, »einen besseren Erfolg kann ich mir gar nicht wünschen. Ihr Wort steht felsenfest. Die Photographie ist jetzt ebenso sicher, als wäre sie ins Feuer geworfen.«
»Die Worte Eurer Hoheit machen mich sehr glücklich.«
»Ich bin tief in Ihrer Schuld. Bitte sagen Sie mir, womit ich Ihnen danken kann. Dieser Ring« – – er zog einen Smaragdreifen vom Finger und hielt ihn Holmes auf der offenen Hand hin.
»Hoheit besitzen etwas, das viel höheren Wert für mich hätte.«
»Bitte nennen Sie es nur.«
»Diese Photographie.«
Der Fürst sah ihn erstaunt an. »Irenes Photographie? Aber natürlich, wenn Sie sie haben wollen.«
»Besten Dank, Hoheit. In der Sache läßt sich nun nichts mehr tun. Ich habe die Ehre, guten Morgen zu wünschen.« Er verbeugte sich und ging, ohne die ausgestreckte Hand des Fürsten zu bemerken.
Auf diese Weise wurde der drohende Skandal im Fürstentum O. glücklich verhütet und die scharfsinnigsten Pläne Sherlock Holmes’ durch die Schlauheit einer Frau vereitelt. Sonst hatte er sich stets über die Weiberschlauheit lustig gemacht, später habe ich nie mehr ein spöttisches Wort darüber von ihm gehört.
Der Bund der Rothaarigen
(The Red-headed League - 1891)
Als ich im vorigen Herbst eines Tages meinen Freund, Sherlock Holmes, aufsuchte, traf ich ihn in eifrigem Gespräch mit einem dicken, blühend aussehenden, älteren Herrn, der feuerrotes Haar hatte. Schon wollte ich mich mit einer Entschuldigung wieder entfernen, als mich Holmes rasch in das Zimmer zog und die Tür hinter mir schloß.
»Gelegener konntest du nicht kommen, lieber Watson«, sagte er herzlich.
»Ich fürchtete, du seiest beschäftigt«, entgegnete ich.
»Das bin ich – und zwar sehr.«
»So will ich im Nebenzimmer warten.«
»Nein, nein, bleibe nur hier. – Doktor Watson«, sagte er, mich dem Fremden vorstellend, »hat mir vielfach in meinen wichtigsten Fällen mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und ich bezweifle nicht, daß er mir auch in Ihrer Angelegenheit, Herr Wilson, von großem Nutzen sein wird.«
Der dicke Herr erhob sich halb von seinem Sitz und nickte grüßend, indem er aus seinen kleinen, von Fettpolstern umgebenen Augen schnell einen forschenden Blick auf mich warf.
»Nimm Platz«, bat Holmes, in seinen Lehnstuhl zurücksinkend, und legte die Fingerspitzen aneinander, wie er es in kritischer Stimmung zu tun pflegte. »Ich weiß, lieber Watson, daß du meine Vorliebe für alles Absonderliche teilst, für alles, was nicht zum ledernen Einerlei des Alltagslebens gehört. Du hast das durch die Wärme bewiesen, mit welcher du einige meiner eigenen, unbedeutenden Erlebnisse wiedergegeben, ja – entschuldige – gewissermaßen ausgeschmückt hast.«
»Allerdings interessierten mich deine Fälle stets ganz besonders«, erwiderte ich.
»Du wirst dich erinnern, daß ich neulich, als wir es mit Fräulein Mary Sutherlands einfacher Angelegenheit zu tun hatten, die Bemerkung machte, wie die sonderbarsten Vorfälle und die merkwürdigsten Verwicklungen im Leben selbst zu finden sind. Die Wirklichkeit bringt weit Überraschenderes hervor als die lebhafteste Einbildungskraft.«
»Eine Behauptung, die ich mir anzuzweifeln getraute.«
»Das tatest du, und dennoch wirst du dich zu meiner Ansicht bekehren müssen, sonst häufe ich Beweise auf Beweise, bis du überführt bist und mir recht gibst. Herr Jabez Wilson hier war so freundlich, mich heute morgen aufzusuchen, um mir etwas zu erzählen, was man nicht alle Tage zu hören bekommt. Ich sagte schon früher, daß ungewöhnliche Dinge häufiger bei kleinen als bei großen Verbrechen vorkommen, ja in Fällen, bei denen es zuweilen sogar zweifelhaft ist, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt. Vielleicht handelt es sich auch im vorliegenden Falle um kein Verbrechen; – so viel ist aber gewiß, daß er höchst merkwürdig ist. Hätten Sie wohl die große Gefälligkeit,