»Ist der arme Herr schwer verletzt?« fragte sie.
»Er ist tot«, schrieen mehrere Stimmen.
»Nein, noch ist Leben in ihm«, meinte ein anderer, »aber ehe er ins Hospital kommt, ist’s aus mit ihm.«
»Das ist ‘n braver Mensch«, sagte eine Frau. »Wär’ er nicht dazu gekommen, hätten sie der Dame Uhr und Kette weggerissen. Das war ‘ne böse Sorte. Da, er rührt sich noch!«
»Hier kann er nicht länger liegen bleiben, dürfen wir ihn hineintragen, Madamchen?«
»Gewiß, bringen Sie ihn ins Wohnzimmer, da ist ein bequemes Sofa. Bitte hier.«
Langsam und feierlich wurde er ins Haus getragen und im besten Zimmer niedergelegt; vom Fenster aus konnte ich den ganzen Vorgang genau beobachten. Ich sah Holmes auf dem Sofa liegen, da die Vorhänge hinter den erleuchteten Scheiben noch nicht zugezogen waren. Verursachte ihm sein falsches Spiel in diesem Augenblick nicht doch Gewissensbisse? Jedenfalls fühlte ich mich tief beschämt, gegen diese schöne Frau Ränke zu schmieden, die mit so entzückender Freundlichkeit und Grazie für den Verwundeten sorgte. Und doch, jetzt konnte und durfte er nicht mehr zurück, und darum versuchte auch ich jedes Reuegefühl abzuschütteln und zog die Rauchrakete aus meinem Überrock. Ich beruhigte mich damit, daß ihr selbst ja kein Leid geschehen sollte und wir sie nur daran hindern wollten, anderen zu schaden. Holmes hatte sich aufgerichtet, er machte eine Bewegung, als wenn er ersticken müßte.
Ein Dienstmädchen beeilte sich, das Fenster zu öffnen. Im selben Moment sah ich ihn die Hand erheben, warf meine Rakete ins Zimmer und schrie aus Leibeskräften: »Feuer!« Mit Windesschnelle verbreitete sich der Ruf weiter und lockte eine Menge Menschen herbei. Dicke Rauchwolken ballten sich im Zimmer und zogen aus dem geöffneten Fenster. Ich sah undeutlich die Schatten von hin und her laufenden Menschen und hörte gleich darauf die Stimme Holmes’ von innen versichern, es sei nur ein falscher Alarm gewesen. Ich drückte mich aus dem lärmenden Haufen und hatte noch nicht zehn Minuten an der Ecke gewartet, als Holmes seinen Arm in den meinigen schob und wir erleichtert und befriedigt den Heimweg antraten. Einige Minuten ging er rasch und schweigend neben mir, bis wir in die ruhigen Straßen von Edgeware Road einbogen.
»Du hast es sehr geschickt gemacht, Doktor«, bemerkte er. »Besser konnte es gar nicht gehen. Nun ist alles in Ordnung.«
»Du hast also die Photographie?«
»Das nicht, aber ich weiß, wo sie ist.«
»Wie hast du das nur herausbekommen?«
»Sie hat’s mir gezeigt, – wie ich dir voraussagte.«
»Das ist mir noch unklar.«
»Nun, ein Geheimnis will ich nicht daraus machen«, sagte er lachend. »Die ganze Geschichte ist höchst einfach. Du wirst natürlich erraten haben, daß auf der Straße alle im Einverständnis waren. Sie waren alle für den Abend engagiert.«
»Ich hab’ es mir fast gedacht.«
»Als nun der Skandal losging, hielt ich etwas feuchten, roten Farbstoff in meiner Handfläche. Beim Hinstürzen schlug ich sie mir vors Gesicht und sah nun natürlich zum Erbarmen aus. Das ist ein alter Kniff.«
»Das ahnte ich auch.«
»Man trug mich hinein. Was konnte sie dagegen machen? Und gerade in ihr Wohnzimmer, auf welches ich mein Hauptaugenmerk hatte. Es stößt an ihr Schlafzimmer, mir konnte also nichts entgehen. Sie legten mich nieder, ich schnappte nach Luft, das Fenster wurde geöffnet, und du kamst an die Reihe.«
»Was konnte dir das helfen?«
»Oh, sehr viel. Wenn eine Frau glaubt, ihr Haus brenne, wird sie instinktmäßig auf den Gegenstand losstürzen, der ihr am teuersten ist. Das ist vollständig naturgemäß, und ich habe es mehr als einmal zu meinem Vorteil ausgebeutet. Eine verheiratete Frau und Mutter greift nach ihrem Kinde, eine unverheiratete Frau nimmt ihren Schmuckkasten. Für mich stand es fest, daß für unsere Dame das wertvollste Gut eben der in Frage kommende Gegenstand sein mußte. Sie würde alles aufbieten, ihn in Sicherheit zu bringen. Der Feuerlärm wurde großartig ausgeführt. Der Rauch und das Geschrei hätten selbst Nerven von Stahl erschüttert. Sie reagierte denn auch vortrefflich darauf. Die Photographie befindet sich in einer Nische hinter einer verschiebbaren Wandfüllung, gerade über dem Klingelgriff. Frau Irene war sofort zur Stelle, und ich überzeugte mich mit einem raschen Seitenblick, daß sie wirklich ein Bild erfaßt hatte. Als ich dann rief, es wäre alles nur ein falscher Lärm gewesen, legte sie es wieder zurück, besah sich die Rakete und eilte aus dem Zimmer. Nachher habe ich sie nicht wieder gesehen. Ich stand auf und machte mich mit vielen Entschuldigungen aus dem Staube. Ich zögerte allerdings, ob ich nicht schnell die Photographie in meinen Besitz bringen sollte, doch der Diener war hereingekommen und ließ mich nicht aus den Augen. So hielt ich es denn für besser, zu warten, da eine kleine Überstürzung alles verderben konnte.«
»Und jetzt?« fragte ich.
»Ja, eigentlich bleibt kaum noch etwas zu tun. Morgen früh statte ich ihr mit dem Fürsten einen Besuch ab, falls du Lust hast, kannst du uns begleiten. Wir werden dann ersucht werden, im Wohnzimmer auf die Dame zu warten, aber ob sie uns oder die Photographie bei ihrem Erscheinen noch vorfindet, ist fraglich. Vielleicht bereitet es Seiner Hoheit eine besondere Genugtuung, das Bild mit eigener Hand wiederzugewinnen.«
»Wann soll der Besuch stattfinden?«
»Morgens acht Uhr. Dann wird die Dame noch nicht aufgestanden sein, und wir haben freie Bahn. Wir müssen natürlich pünktlich sein, da man nicht wissen kann, welche Veränderungen diese Heirat in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten hervorruft. Ich werde sofort den Fürsten benachrichtigen.«
Während unseres Gespräches hatten wir die Bakerstraße erreicht und standen vor der Haustüre. Er suchte in der Tasche nach dem Schlüssel, als ihm ein Vorübergehender zurief: »Gute Nacht, Herr Holmes!« Das Trottoir war um diese Zeit ziemlich belebt, doch der Gruß schien von einem jungen Menschen in einem faltigen Überrock herzurühren, der eilig vorwärts schritt.
»Die Stimme habe ich schon irgendwo gehört«, sagte Holmes, die schwach erleuchtete Straße hinunterblickend, »wer, zum Teufel, mag das gewesen sein?«
III
Ich schlief diese Nacht in der Bakerstraße, und wir nahmen am andern Morgen eben unser Frühstück ein, als der Fürst hereinstürmte. »Sie haben es wirklich?« rief er, Holmes bei den Schultern packend und ihm gespannt ins Gesicht sehend.
»Bis jetzt noch nicht.«
»Aber Sie haben doch Hoffnung?«
»Die hab’ ich.«
»Dann, bitte, kommen Sie, ich vergehe vor Ungeduld.«
»Wir müssen erst einen Wagen holen lassen.«
»Mein Brougham hält vor der Tür.«
»Um so besser.« Wir stiegen ein, und fort ging es nach Briony Lodge.
»Irene Adler ist verheiratet«, bemerkte Holmes.
»Verheiratet? Seit wann?«
»Seit gestern.«
»Und mit wem?«
»Mit einem englischen Rechtsanwalt namens Norton.«
»Wirklich? Nun, lieben kann sie ihn jedenfalls nicht.«
»Und doch wäre das im Interesse Eurer Hoheit nur zu wünschen.«
»Aber aus welchem Grunde?«
»Weil das Eure Hoheit vor jeder späteren Unannehmlichkeit sichern würde. Falls die Dame ihren Gatten liebt, liebt sie nicht Eure Hoheit. Und liebt sie Eure Hoheit nicht, warum sollte sie dann die Zukunftspläne Eurer Hoheit zerstören wollen?«