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An der Pforte nahmen sie voneinander Abschied. Billy war sichtbar verlegen, und das tat Saxon wohl. Er war keiner der jungen Männer, die das als etwas Selbstverständliches hinnahmen. Eine Pause trat ein, in der sie tat, als wollte sie hineingehen, während sie in Wirklichkeit mit geheimer Ungeduld auf die Worte wartete, die sie von ihm wünschte. »Wir sehen uns doch wieder, nicht wahr?« fragte er, ihre Hand in der seinen.
Sie lachte einwilligend.
»Ich wohne in der Gegend von Ost-Oakland«, erklärte er. »Dort liegt der Stall, wissen Sie, und wir fahren hauptsächlich in dem Viertel, sodass mein Weg ja nicht oft hier vorbeiführt. Aber hören Sie mal –« Seine Hand griff fester um die ihre. »Wir müssen noch einmal ebenso gut zusammen tanzen. Mittwoch ist Ball im Orindore-Klub. Wenn Sie nichts anderes vorhaben – oder haben Sie?«
»Nein«, sagte sie.
»Dann sagen wir also Mittwoch. Wann soll ich Sie abholen?«
Und als sie alles verabredet hatten und er eingewilligt hatte, dass sie ein paar Tänze mit anderen tanzen dürfte, und sie sich noch einmal Gutenacht sagten, fasste er ihre Hand und zog sie an sich. Sie wehrte sich, schwach, aber mit ehrlichem Willen. Es war üblich so, aber sie hatte das Gefühl, dass sie es lieber lassen sollte, aus Furcht, missverstanden zu werden. Und doch wünschte sie, ihn zu küssen, wie sie noch nie gewünscht hatte, einen Mann zu küssen. Als es kam und sie das Gesicht zu ihm hob, stellte sie fest, dass es seinerseits ein Kuss in Ehren war. Nichts lag dahinter. Unbeholfen und freundlich, wie er selber war, wirkte er fast jungfräulich und verriet keine große Erfahrung in der Kunst des Gutenachtsagens. Es sind also doch nicht alle Männer wie Tiere, dachte sie.
»Gute Nacht«, murmelte er. Die Pforte kreischte unter seiner Hand. Er eilte den engen Weg hinab, der zur Ecke des Hauses führte.
»Mittwoch«, rief sie ihm leise nach.
»Mittwoch«, antwortete er. Aber in dem dunkeln Gang zwischen den zwei Häusern blieb sie stehen und lauschte froh auf das Geräusch seiner Schritte auf dem zementierten Bürgersteig. Erst als sie verhallten, ging sie hinauf. Sie schlich sich die Hintertreppe hinauf und durch die Küche in ihr Zimmer, von Herzen dankbar, dass Sarah schlafen gegangen war.
Sie zündete das Gas an, und während sie ihren kleinen Samthut abnahm, spürte sie noch, wie ihre Lippen nach dem Kuss zitterten. Selbstverständlich hatte der nichts zu bedeuten. Es war unter jungen Leuten so üblich. Alle taten es. Aber ihr Gutenachtkuss hatte ihr nie dieses zitternde Gefühl im Gehirn und auf ihren Lippen gegeben. Was war das? Was bedeutete das? Eine plötzliche Eingebung ließ sie sich im Spiegel betrachten. Die Augen strahlten glücklich. Die Röte, die so leicht in ihren Wangen kam und ging, verlieh ihnen im Augenblick Farbe und Glut. Es war ein schönes Spiegelbild, das sie froh und selbstbewusst lächeln ließ, und das Lächeln vertiefte sich noch beim Anblick der zwei starken, weißen und ganz ebenmäßigen Zahnreihen. Warum soll Billy das Gesicht nicht gefallen? fragte sie sich. Anderen Männern hatte es gefallen. Selbst die anderen Mädchen gaben zu, dass sie gut aussah. Charley Long musste es doch gefallen, sonst würde er ihr das Leben nicht so zur Qual machen.
Sie warf einen Blick nach dem Spiegel, wo seine Fotografie steckte, schauderte und schnitt eine kleine Grimasse vor Abscheu und Ekel. Grausamkeit lag in den Augen und Brutalität. Er war eine Bestie. Ein ganzes Jahr lang tyrannisierte er sie jetzt. Er verscheuchte die anderen. Es war gleichsam eine Art Sklaverei, wie er ihr aufpasste. Sie musste an den jungen Buchhalter in der Wäscherei denken – der war kein Arbeiter, nein, sondern ein feiner Herr mit weichen Händen und weicher Stimme – ihn hatte Charley an der Straßenecke überfallen, nur, weil er gewagt hatte, sie zum Theater einzuladen. Und sie hatte nichts tun können. Um seinetwillen hatte sie nie ja zu sagen gewagt, wenn er sie eingeladen hatte.
Und nun sollte sie Mittwoch abend mit Billy ausgehen. Das Herz hüpfte ihr. Es gab wohl Krach, aber Billy würde sie von ihm befreien. Er sollte nur versuchen, Billy zu überfallen.
Mit einer schnellen Bewegung warf sie die Fotografie herunter und ließ sie mit der Bildseite auf die Kommode fallen. Dort lag sie jetzt neben einem kleinen viereckigen Etui aus dunklem Leder, das vom Zahn der Zeit ziemlich mitgenommen war. Mit dem Gefühl, dass es eine Profanation war, ergriff sie wieder die unselige Fotografie und warf sie in eine Ecke des Zimmers. Hierauf nahm sie das Lederetui, drückte auf eine Feder, dass es aufsprang, und betrachtete die Daguerreotypie einer kleinen abgearbeiteten Frau mit festen grauen Augen und mit einem Mund mit zuversichtlichem, rührenden Ausdruck. Auf dem Samt des Etuis stand mit Goldbuchstaben: Carlton von Daisy. Sie las es andächtig, denn es war der Name ihres Vaters, den sie nie gekannt hatte, und das Bild stellte die Mutter dar, die sie nur so wenig gekannt, wenn sie auch nie vergessen hatte, dass diese klugen traurigen Augen grau gewesen waren.
Obwohl Saxon keine Religion im üblichen Sinne hatte, war sie doch von Natur aus tief religiös. Ihre Gedanken von Gott waren vage und verschwommen und wirkten fast verwirrend. Sie konnte Gott nicht vor sich sehen. Hier auf der Daguerreotypie war das Konkrete. In die Kirche ging sie nicht. Dies war ihr Hochaltar, ihr Heiligtum. Hierzu nahm sie ihre Zuflucht in Not und in Verlassenheit. Hier suchte sie Rat, gute Eingebungen und Stütze. Sie hatte das Gefühl, dass sie anders war als die jungen Mädchen ihrer Bekanntschaft, und in dem abgebildeten Antlitz versuchte sie die Eigentümlichkeit ihres eigenen Wesens zu finden. Ihre Mutter war auch anders gewesen als andere Frauen. Diesem Bild gegenüber bemühte sie sich, wahr zu sein, anderen kein Unrecht zu tun oder Ärger zu bereiten. Und was sie in Wirklichkeit von ihrer Mutter wusste, und wie viel sie raten und vermuten musste, machte sie sich nicht klar. Denn seit vielen Jahren formte sie an ihrer Muttermythe.
Aber – war es nur eine Mythe? In plötzlichem Zorn über ihren eigenen Zweifel zog sie die unterste Kommodenlade heraus und entnahm ihr eine alte abgegriffene Mappe. Vergilbte Manuskripte fielen heraus und verbreiteten einen schwachen, süßen Duft von fernen Zeiten. Die Schrift hatte die feine verschnörkelte Zierlichkeit, die vor einem halben Jahrhundert allgemein war. Sie las eine Strophe:
Süß wie der Äolsharfe luftige Saiten,
So lernte deine holde Muse die Gesänge,
Und Kaliforniens endlose Weiten
Bewahren noch im Echo diese Klänge.
Sie fragte sich, wie tausend Male zuvor, was eine Äolsharfe war,