»Es gibt hier noch etwas anderes, das gefunden werden muss«, erklärte Dollent dann gebieterisch, als ob man ihn mit der Leitung der Untersuchung betraut hätte. »Aber zunächst einmal möchte ich wissen, wo Sie das Tütchen gefunden haben.«
»Das ist ja das Merkwürdige. Es war ganz hinten im Schrank versteckt, zwischen der Unterwäsche der Dame.«
»Dann werden Sie unter den persönlichen Dingen des Mannes vermutlich eine kleine Schachtel finden, auf dem der Name eines Medikaments steht.«
Der Inspektor blickte seinen Chef an: Sollte er tun, was man ihm sagte?
Der Kommissar zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen:
»Was soll ich da machen? Er befiehlt, und niemand protestiert … Suchen Sie, wenn Sie wollen!«
Bei jenen, die an solchen Ermittlungen beteiligt sind, findet man etwas von der gleichen krankhaften Freude, die die Leute auf Auktionen dazu treibt, in alten Sachen zu wühlen und die Schubfächer von Schränken oder Kommoden zu öffnen.
Man dringt plötzlich mit vollem Recht in das Leben eines Hauses ein, bemüht sich, hinter seine Geheimnisse zu kommen. Der tapsigste Polizist beginnt in feiner Damenwäsche zu stöbern, und bis hin zur Korrespondenz gibt es nichts, in das er nicht seine Nase stecken dürfte.
So stellte man fest, dass, auch wenn die junge Frau (von der man nichts wusste, nicht einmal den Namen) meist nur spärlich bekleidet war, sie doch ziemlich viele Kleider besaß, die zwar nicht luxuriös, aber von guter Qualität und sehr geschmackvoll waren.
Drouin dagegen besaß fast nichts, sofern er nicht einen Koffer mitgenommen hatte, was unwahrscheinlich war, da er zu Fuß nach La Rochelle hatte gehen müssen. Die graue Hose war bestimmt seine einzige, im Schrank hing keine andere, dagegen fand man einen verwaschenen gelben Rollkragenpullover in einem Schrank mit schmutziger Wäsche. Man hatte auch seine Sandalen gefunden, was vermuten ließ, dass er mit seinem einzigen Paar festen Schuhen weggegangen war.
Er war ein gebildeter junger Mann, das zeigten die Bücher in den Regalen.
»Ich wette …«, sagte der kleine Doktor plötzlich.
Während die Polizisten das Oberste zuunterst kehrten, um die kleine Schachtel zu finden, hatte er nachgedacht und auf einen Tontopf gestarrt, der fast ein Pfund Tabak enthielt.
»Suchen Sie in dem Tabak … Es würde mich wundern, wenn …«
Von da an betrachtete man ihn nicht nur neugierig, sondern auch respektvoll. Der Inspektor, der die Hand in den Tabaktopf steckte, zog sie nämlich nicht leer wieder heraus. Er hatte eine kleine Schachtel in der Hand. Ohne hinzusehen, nannte Dollent den Namen des Medikaments.
»Sie muss halb voll sein«, fuhr er fort.
Er entdeckte eine völlig neue Form der Zufriedenheit. Um nichts in der Welt hätte er noch gewünscht, dass man ihn am Mittag nicht angerufen hätte. Er jubilierte und betrachtete verstohlen den mürrischen Kommissar und den Assessor, der sich als Mann von Welt gab.
»Sie können sicher sein, in dieser Schachtel ist nichts weiter als doppeltkohlensaures Natron.«
Um der Wahrheit Genüge zu tun, muss hinzugefügt werden, dass der Assessor noch einige Augenblicke später ganz baff war, während der Kommissar halblaut zu sagen wagte:
»Man darf nicht vergessen, dass er vor uns hier gewesen ist und fast eine Stunde allein im Haus war, das hat er ja selbst zugegeben.«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, ich …«
»Natürlich nicht. Trotzdem … Hm …«
Das Telefon klingelte. Ein Gespräch aus Paris.
Es musste fünf Uhr nachmittags sein. Inzwischen hatten es sich alle bequem gemacht, und die Männer hatten, bis auf den Assessor und seinen Schreiber, die Jacke ausgezogen. Niemand dachte mehr daran, dass auf dem Küchentisch eine Leiche lag.
Ein Polizist hatte zu den Aperitifflaschen hingeschielt, denn er war sehr durstig, aber er hatte nicht gewagt, sich etwas einzuschenken, und der Bürgermeister von Esnandes hatte gesagt:
»Ich werde ein paar Flaschen Weißwein von zu Hause holen lassen …«
Der Gendarm hatte sich auf den Weg gemacht. Die Flaschen standen entkorkt auf dem Tisch im Wohnzimmer. Der schwitzende Schreiber hielt immer wieder im Schreiben inne, um einen Schluck zu trinken.
Der Kommissar, der lange mit Paris telefoniert und sich dabei Notizen gemacht hatte, erstattete dem Assessor Bericht.
»Wie ich es mir gedacht habe. Der Mann ist sofort identifiziert worden. Ich hätte sogar geschworen, dass er mir gar nicht so unbekannt ist. Es ist Jo, der Boxer.«
Den anderen sagte der Name nichts.
»Ein übles Subjekt, verkehrt vor allem in den Bars an der Place des Ternes. Ein halbes Dutzend Vorstrafen … Das letzte Mal ist er vor drei Monaten aus dem Gefängnis in Poissy entlassen worden.«
»Vor drei Monaten«, wiederholte der Arzt, als wollte er sich diese Zahl gut einprägen.
»Was nützt Ihnen das schon?«, schien der strenge Blick des Kommissars zu sagen.
Und der Kommissar fuhr fort:
»Sie haben ja gehört, dass ich gefragt habe, ob man Jo in der letzten Zeit in Paris gesehen hat. Da er keine Aufenthaltserlaubnis hatte, hätte er gar nicht dort sein dürfen. Dennoch ist er mehrmals gesehen worden, erst letzte Woche bei der Étoile …«
»Also hat er sich nicht hier versteckt«, sagte der kleine Doktor befriedigt.
»Ich habe nie behauptet, er hätte sich hier versteckt.«
»Aber Sie haben es gedacht!«
»Es ist doch ganz unwichtig, was …«
»Messieurs! Messieurs! Wir wollen uns doch nicht streiten«, fiel der Assessor ein. »Man könnte glauben, Kommissar und Arzt würden sich gleich die Köpfe einschlagen.«
»Wenn dieser Herr mich weiter provoziert …«
»Aber das tue ich doch gar nicht! Ich schwöre.«
»Fahren Sie fort, Kommissar … Also, Jo, der Boxer, war kürzlich in Paris. Er ist wahrscheinlich mit dem Zug hergekommen. Was wollte er hier?«
Und der unverbesserliche Doktor konnte nicht umhin zu sagen:
»Das ist eben die Frage. Bestimmt ist er nicht hergekommen, um Messerstiche einzustecken und hinter einer Hecke verbuddelt zu werden …«
»Nehmen wir an, er sei der Frau wegen gekommen«, riskierte der Assessor zu sagen, der an seiner Idee festhielt.
Nein! Das war nicht der Grund gewesen. Der kleine Doktor spürte das. Es war zugleich einfacher und komplizierter. Er würde dahinterkommen. Er würde vielleicht einige Zeit dafür brauchen, aber er war sicher, er würde dahinterkommen.
»Weshalb ist er das letzte Mal verurteilt worden?«, fragte er.
»Wenn ich nicht ständig unterbrochen worden wäre, hätte ich es längst gesagt … Der Wirt eines Nachtlokals in der Rue Fontaine ist ermordet worden.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Raubmord … Mehrere Männer, man hat nie herausbekommen, wie viele genau, haben sich an dem Abend in dem Lokal einschließen lassen. Sie hatten es auf die Kasse abgesehen … Als bloß noch der Wirt im Lokal war, haben sie sich auf ihn gestürzt. Er hat sich gewehrt. Schüsse sind gefallen … Nur Jo, der Boxer, ist gefasst worden. Er ist lediglich als Mittäter verurteilt worden, denn die Fingerabdrücke, die man auf dem im Lokal zurückgelassenen Revolver gefunden hat, waren nicht von ihm.«
Da geschah etwas Unerwartetes. Der kleine Doktor zog seine Jacke wieder an. Er wirkte sehr zufrieden und freundlich. Man hätte glauben können, dass nie von einem Mord oder von einem Mörder die Rede gewesen sei, dass er nur gekommen sei, um reizenden Patienten oder Freunden einen