Und welche Rolle spielte dabei die junge Frau, deren Namen der kleine Doktor nicht kannte? Wo war sie? Bei ihrem Geliebten?
Wenn sie aus irgendeinem Grund einen Mord begangen hatten, warum hatten sie sich dann nicht einfach aus dem Staub gemacht?
Es wären sicher Tage, vielleicht sogar Wochen vergangen, ehe sich die Bewohner von Esnandes über ihr Verschwinden gewundert hätten. Bis dahin wäre das Gras wieder gewachsen, und höchstwahrscheinlich hätte man die Leiche nie entdeckt.
Also … Also, es gab einen Grund, und dem kleinen Doktor wurde plötzlich klar, dass er keine Ruhe finden würde, bis er diesen Grund kannte.
Er konnte nicht die ganze Leiche exhumieren. Dazu war er nicht befugt. Er bedeckte den Kopf und die Hand mit einem vom Küchenfenster heruntergerissenen Vorhang. Dann setzte er sein Auto in Gang, das die ganze Fahrt brummte wie eine dicke, wütende Fliege.
Er traf den Bürgermeister beim Mittagessen auf dem Bauernhof, den dieser bewirtschaftete und der am anderen Ende von Esnandes lag, Richtung Marsilly. Der kleine Doktor nahm eine gegrillte Sardine aus der Schüssel und aß sie, ohne an das zu denken, was seine Hände vorher berührt hatten.
»Im Garten der Maison-Basse liegt eine Leiche …«
»Was für eine Leiche?«
»Eine Männerleiche. Man hat sie dort begraben. Man sollte wohl besser die Gendarmerie benachrichtigen, vielleicht sogar die Kriminalpolizei.«
Noch eine Sardine. Die Aufregung hatte ihm Appetit gemacht.
»Es geht mich zwar nichts an, aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann begleiten Sie mich zu mir nach Hause. Von da aus können Sie mit La Rochelle telefonieren … Inzwischen sollten Sie den Gendarm in die Maison-Basse schicken, damit er niemanden hereinlässt.«
Der arme Gendarm, der bestimmt schon betrunken war!
»Wollen Sie nicht einen Happen mit uns essen?«
»Danke, aber …«
Während der Bürgermeister sich anzog, aß der kleine Doktor trotzdem heimlich ein halbes Dutzend Sardinen und gönnte sich zwei Glas Weißwein.
»Glauben Sie, es handelt sich um einen Mord?«
»Nun, wenn man jemanden hinten in einem Garten verscharrt, ohne die Behörden, den Pfarrer oder ein Bestattungsinstitut zu benachrichtigen …«
»Gehen wir!«
Erst die Gendarmerie. Dann die Kriminalpolizei. Das dauerte seine Zeit. Anna war wütend. Das Ragout war schließlich doch noch angebrannt.
»Man wird uns hier abholen«, sagte der Bürgermeister. »Ich habe die Staatsanwaltschaft benachrichtigen lassen. Ich hatte schon geahnt, dass diese Fremden mir Ärger bescheren würden …«
Für ihn traf die Bezeichnung ›Fremde‹ auf jeden zu, der nicht im Dorf geboren war.
»Erlauben Sie? Ich habe selber noch ein paar Telefonate zu führen …«
Zunächst rief Dollent das Postamt in La Rochelle an. Zehn Minuten später antwortete man ihm, der Anruf um fünf vor halb eins sei aus dem Café des Navigateurs am Hafen, dreihundert Meter vom Bahnhof entfernt, gekommen. Der nächste Zug fuhr erst um drei Uhr acht ab.
»Und die Busse?«
»Da müssen Sie sich an die Firma Brivin wenden.«
Gespräch Nummer zwei. Bei Brivin hieß es:
»Um zwölf Uhr vierzig fährt ein Autobus nach Surgères und um dreizehn Uhr zehn einer nach Rochefort.«
Bei Brivin erfuhr er auch, dass in den am Morgen um acht in Esnandes abgefahrenen Bus niemand eingestiegen war, auf den die von Dollent gegebene Personenbeschreibung zutraf. Auch keine Frau.
Blieben die Taxis. Drouin hätte eins aus La Rochelle kommen lassen können, aber das wäre in Esnandes nicht unbemerkt geblieben.
Also war Drouin – und wohl auch seine Begleiterin – am Vormittag die zehn Kilometer von der Maison-Basse nach La Rochelle zu Fuß gegangen.
Um fünf vor halb eins hatte Drouin bei dem Arzt angerufen und ihn gebeten, in die Maison-Basse zu kommen.
Zu ihm nach Hause, wo eine Leiche war …
Der Bürgermeister von Esnandes wartete, während der kleine Doktor im Zimmer auf und ab ging und plötzlich erklärte:
»Irgendwas stimmt da nicht.«
»Wie meinen Sie das? Sind Sie nicht sicher, dass es eine Leiche ist?«
»Ich meine, irgendjemand hat einen Fehler begangen … Anders ist es nicht möglich. Sie werden sehen …«
Er vollendete den Satz nicht, denn in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab.
»Hallo …«
»Sind Sie’s, Doktor?«
Er zuckte nicht zusammen. Er hatte die Stimme erkannt. Es war die von Drouin. Man spürte, er war ängstlicher als am Mittag. Er wagte kaum zu sprechen. Fürchtete er, dass das Gespräch mitgehört würde?
»Hallo. Sie erkennen mich, nicht wahr?«
»Ja.«
Ein Blick zum Bürgermeister, der zuhörte, sich aber auf all das keinen Reim machen konnte.
»Waren Sie dort?«
»Ja.«
»Und … Wie soll ich sagen? Haben Sie nichts …«
»Von wo telefonieren Sie?«
Verlegenes Schweigen.
»Ich verstehe. Gut.«
»Sie verstehen? Also …«
»Ja!«
»Sie haben ihn …«
»Ja.«
»Das hätte ich mir denken müssen. Und Sie … Sie haben … Antworten Sie mir offen … Ich ahne, was Sie über mich denken … Vielleicht werde ich später mit Ihnen darüber sprechen können … Ist die Polizei …«
»Ja, sie ist benachrichtigt.«
»Hallo, Doktor … Sind Sie noch am Apparat? Ist … ist …«
In diesem Augenblick hörte man ein Knistern in der Leitung. Das Fräulein vom Amt schaltete sich ein:
»Hallo, Rochefort … Fertig?«
»Trennen Sie nicht!«, rief Drouin erregt. »Hallo, Doktor …«
»Ja.«
»Sind Sie noch am Apparat? Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis …«
Der kleine Doktor wandte sich dem Bürgermeister zu, der noch zuhörte und immer weniger verstand.
»In einer Stunde«, sagte Dollent schließlich, »werden alle Bahnhöfe, alle Busse überwacht werden.«
»Ich danke Ihnen. Kann ich Sie noch einmal anrufen?«
»Das Telefon wird auch überwacht werden.«
»Dann … Moment! Bleiben Sie am Apparat. Ich habe noch eine Frage … Es könnte sein, dass heute Nacht eine verletzte Person zu Ihnen kommt … Verstehen Sie mich?«
»Ja.«
»Dass sie ganz allein kommt. Dass sie wirklich Ihres Beistands bedarf …«
Schweigen. Anna horchte von Zeit zu Zeit an der Tür und wurde immer ungeduldiger.
»Sagen Sie … Wie ist das mit dem Berufsgeheimnis?«
»Es gibt da keine Vorschrift. Ich kann aussagen oder schweigen. Ich habe das mit meinem Gewissen abzumachen. Wenn ich