Es gibt kaum etwas, wodurch dies wirksamer erreicht werden könnte, als durch die Beschäftigung mit der Geschichte, durch das Überschauen und Begreifen des Entwicklungsganges der Gesellschaft durch große Zeiträume hindurch, namentlich wenn diese Entwicklung gewaltige soziale Bewegungen umfaßte, die in heute herrschenden Mächten fortwirken.
Das Proletariat zu gesellschaftlicher Einsicht, zu Selbstbewußtsein und politischer Reife, zu weitumfassendem Denken zu bringen, dazu ist unentbehrlich das Studium des geschichtlichen Prozesses an der Hand der materialistischen Geschichtsauffassung. So wird für uns die Erforschung der Vergangenheit, weit entfernt, bloße antiquarische Liebhaberei zu sein, vielmehr eine mächtige Waffe in den Kämpfen der Gegenwart, um die Erringung einer besseren Zukunft zu beschleunigen.
Berlin, September 1908
K. Kautsky
I. Die Persönlichkeit Jesu
1. Die heidnischen Quellen
Wie immer man sich zum Christentum stellen mag, auf jeden Fall muß man es als eine der gigantischsten Erscheinungen der uns bekannten Menschheitsgeschichte anerkennen. Man kann sich nicht eines Gefühls hoher Bewunderung erwehren, wenn man die christliche Kirche betrachtet, die fast zwei Jahrtausende alt ist und noch immer voll Lebenskraft vor uns dasteht, in manchen Ländern stärker als die Staatsgewalt. So wird alles, was dazu beiträgt, diese kolossale Erscheinung zu begreifen, also auch das Studium des Ursprungs dieser Organisation, trotzdem es uns um Jahrtausende zurückführt, zu einer höchst aktuellen Angelegenheit mit großer praktischer Bedeutung.
Das sichert den Untersuchungen der Anfänge des Christentums ein weit größeres Interesse als jeder anderen historischen Untersuchung, die über die letzten zwei Jahrhunderte zurückgeht, das macht aber auch die Erforschung dieser Anfänge noch schwieriger, als sie ohnehin wäre.
Die christliche Kirche ist zu einer Herrschaftsorganisation geworden, die entweder den Bedürfnissen ihrer eigenen Machthaber dient oder denen anderer, staatlicher Machthaber, die sich ihrer zu bemächtigen verstanden haben. Wer diese Machthaber bekämpft, muß auch die Kirche bekämpfen. So hat sich der Kampf um die Kirche wie der gegen die Kirche zu einer Parteisache gestaltet, mit der die wichtigsten ökonomischen Interessen verknüpft sind. Das ist nur zu sehr geeignet, die Unbefangenheit der historischen Forschung über die Kirche zu trüben, es hat auch lange genug dazu geführt, daß die herrschenden Klassen die Erforschung der Anfänge des Christentums überhaupt verboten, daß sie der Kirche einen göttlichen Charakter beilegten, der überhalb und außerhalb jeder menschlichen Kritik zu stehen hatte.
Der bürgerlichen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts gelang es endlich, diesen göttlichen Nimbus gründlich zu zerstören. Damit erst wurde eine wissenschaftliche Erforschung der Entstehung des Christentums möglich. Aber merkwürdigerweise hielt sich auch im neunzehnten Jahrhundert die weltliche Wissenschaft von diesem Gebiet fern, tat so, als gehöre es noch immer ausschließlich in das Gebiet der Theologie und gehe sie nichts an. Eine ganze Reihe von Geschichtswerken, verfaßt von den bedeutendsten bürgerlichen Geschichtschreibern des neunzehnten Jahrhunderts, die von der römischen Kaiserzeit handeln, huschen vorsichtig an der wichtigsten Erscheinung dieser Zeit vorbei, der Entstehung des Christentums. So handelt zum Beispiel Mommsen im fünften Bande seiner römischen Geschichte sehr ausführlich von der jüdischen Geschichte unter den Cäsaren, er kann nicht umhin, nebenbei gelegentlich auch des Christentums zu gedenken, aber es tritt bei ihm unvermittelt als fertige Tatsache auf, die als bekannt vorausgesetzt wird. Es waren bisher im wesentlichen nur die Theologen und ihre Widersacher, die freidenkerischen Propagandisten, die sich für die Anfänge des Christentums interessierten.
Indes brauchte es nicht notwendigerweise Feigheit zu sein, was die bürgerliche Geschichtschreibung, soweit sie eben mit Geschichtschreibung und nicht auch Kampfliteratur sein wollte, davon abhielt, sich mit dem Ursprung des Christentums zu befassen. Schon der trostlose Zustand der Quellen, aus denen wir unsere Kenntnis dieses Gebiets zu schöpfen haben, mußte sie davon abschrecken.
Die herkömmliche Auffassung sieht im Christentum die Schöpfung eines einzelnen Mannes, Jesu Christi. Und diese Auffassung ist bis heute nicht überwunden. Wohl gilt Jesus, wenigstens in den Kreisen der „Aufgeklärten“ und „Gebildeten", nicht mehr als Gott, aber immerhin als eine außerordentliche Persönlichkeit, die auftrat mit der Absicht, eine neue Religion zu stiften, und dies mit dem bekannten ungeheuren Erfolg auch bewirkte. Dieser Auffassung huldigen aufgeklärte Theologen, nicht minder aber radikale Freidenker, und diese letzteren unterscheiden sich von den Theologen nur durch die Kritik, die sie au der Person Christi üben, der sie alles Erhabene möglichst zu nehmen suchen.
Indessen hat schon zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts der englische Geschichtschreiber Gibbon in seiner Geschichte des Verfalls und Untergangs des römischen Weltreichs (verfaßt 1774 bis 1788) mit feiner Ironie darauf hingewiesen, wie auffallend es ist, daß keiner seiner Zeitgenossen etwas von Jesus berichtet, der angeblich so Erstaunliches geleistet hat.
„Wie sollen wir jene träge Aufmerksamkeit der heidnischen und philosophischen Welt für jene Zeugnisse erklären,“ schreibt er, „die von der Hand der Allmacht nicht ihrer Vernunft, sondern ihren Sinnen geboten wurden? Im Zeitalter Christi, seiner Apostel und ihrer ersten Jünger wurde die Lehre, welche sie predigten, durch zahllose Wunder bekräftigt. Die Lahmen gingen, die Blinden sahen, die Kranken wurden geheilt, die Toten auferweckt, Dämonen ausgetrieben und die Gesetze der Natur oft zum Wohle der Kirche unterbrochen. Aber die Weisen Griechenlands und Roms wendeten sich von dem ehrfurchtgebietenden Schauspiel ab und schienen, indem sie die gewöhnlichen Beschäftigungen des Lebens und der Studien verfolgten, aller Änderungen in der moralischen und physischen Regierung der Welt unbewußt zu sein.“
Nach der christlichen Überlieferung wurde beim Tode Jesu die ganze Erde oder mindestens ganz Palästina in dreistündige Finsternis versetzt. Das trug sich bei Lebzeiten des älteren Plinius zu, der in seiner Naturgeschichte ein eigenes Kapitel über Finsternisse hat; aber von dieser erwähnt er nichts. (Gibbon, 15. Kapitel)
Wenn wir aber auch von den Wundern absehen, ist es schwer zu verstehen, daß eine Persönlichkeit, wie der Jesus der Evangelien, der nach deren Berichten eine solche Aufregung in den Gemütern erweckte, wirken und schließlich als Märtyrer seiner Sache sterben konnte, ohne daß die heidnischen und jüdischen Zeitgenossen auch nur ein Wort über ihn verloren.
Die erste Erwähnung Jesu durch einen Nichtchristen finden wir in den Jüdischen Altertümern des Josephus Flavius. Das Kapitel des 18. Buches handelt vom Prokurator Pontius Pilatus, und da heißt es unter anderem:
„Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mann, wenn man ihn einen Mann nennen darf, denn er vollbrachte Wunder und war ein Lehrer der Menschen, die freudig die Wahrheit annahmen, und fand einen großen Anhang bei Juden und Hellenen. Dieser war der Christus. Obwohl ihn dann Pilatus auf die Anklage der Vornehmsten unseres Volkes mit dem Kreuze bestrafte, blieben ihm doch jene treu, die ihn zuerst geliebt. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder, zu neuem Leben auferstanden, wie die Propheten Gottes dieses und tausende anderer wunderbarer enge von ihm geweissagt hatten. Nach ihm werden die Christen genannt, deren Sekte (φῦλον) seitdem nicht aufgehört hat.“
Nochmal spricht dann Josephus von Christus im 20. Buche, 9. Kapitel, 1, wo es heißt, der Hohepriester Ananus habe unter dem Landpfleger Albinus (zur Zeit Neros) bewirkt, daß „Jakobus, der Bruder Jesu, des sogenannten Christus (τοὺ λεγομένου χριστοὺ),